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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen
Autoren: Stephen Dobyns
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eine Hand, die zum Abschied winkt.
    Auf der Nordseite des Sumpfes, hinter den Bahngleisen, steht ein Obelisk zum Gedenken an die Große Sumpfschlacht vom 19 . Dezember 1675 , zu Beginn von King Philips Krieg. King Philip war der Häuptling der Narragansett, und mehr als tausend Indianer wurden damals getötet, hauptsächlich Frauen, Kinder und alte Leute, die in ihren Wigwams verbrannten. Zweihundert Kolonialsoldaten kamen ebenfalls zu Tode, aber damit waren die Indianer als Macht in Neuengland erledigt. Die meisten Gefangenen wurden als Sklaven nach Jamaica verkauft, wo sie Zuckerrohr schneiden mussten.
    Ein paar Sommercamps sind an den Ufern des Worden Pond verstreut, und seit Jahrzehnten jagen die Betreuer den Kindern mit nächtlichen Geschichten von den Indianern Angst und Schrecken ein: Noch immer höre man ihre Schreie tief im Wald, Jungen würden von flackernden Lichtern in den Sumpf gelockt, und drei Pfadfinder seien einmal davonspaziert, und man habe sie nie wiedergesehen. Manchmal ist in diesen Geschichten auch die Rede von einem Wolf, der zwischen den Bäumen umherhuscht und eine Hand in der Schnauze trägt. Eine Jungenhand. Das ist natürlich albernes Zeug.
    Ein paar kleine Straßen schlängeln sich an den Rändern des Great Swamp entlang, die Hälfte endet an den Bahngleisen und geht dann auf der anderen Seite weiter. Morgens um halb drei ist es dunkel in den Häusern, die vereinzelt an diesen Straßen stehen; bei den meisten hängt allerdings außen eine Lampe, die Räuber verscheuchen soll, sowohl zweibeinige als auch vierbeinige. Aber dass drinnen kein Licht brennt, bedeutet nicht, dass alles schläft. Nehmen wir die Farm am Westrand des Sumpfes. Barton Wilcox und seine Frau Bernice – die überall nur Bernie heißt – haben hier dreißig Merinoschafe und einen Haufen anderer Tiere: Gänse, Hühner, Katzen und zwei Bouvier-Hunde. In den sechziger Jahren haben Bernie und Barton in einer Kommune im Big Sur gelebt, doch nach fünf Jahren sind sie nach Rhode Island zurückgezogen, woher sie kamen. Bernie ging zur Schwesternschule, und Barton fing ein Englischstudium an. Vor zwanzig Jahren starben Bartons Eltern bei einem Autounfall, und er erbte genug Geld, um seine Lehrerstelle an den Nagel zu hängen und die Farm zu kaufen. Bernie hat einen Teilzeitjob im Morgan Memorial Hospital. Daneben sind sie Weber, verarbeiten die Wolle ihrer eigenen Schafe und betätigen sich als Bio-Farmer. Barton ist vierundsechzig, aber er trägt immer noch einen Pferdeschwanz, auch wenn der inzwischen grau und sein Schädel oben kahl ist. Bernie läuft gern in den farbenfrohen Bauernröcken herum, die sie selbst macht. Sie ist ein paar Jahre jünger als ihr Mann, groß und stämmig, jedoch eher muskulös als fett. Sie und Barton verkaufen Eier und Gemüse, und im Frühjahr beliefern sie die Griechen mit Osterlämmern.
    Bei ihnen wohnt ihre Enkelin Antigone, die zehn Jahre alt ist. Wo ihre Mutter ist, kann man nie wissen – vielleicht im Big Sur, vielleicht in Berkeley oder Boulder, in Madison oder Ann Arbor. Sie nennt sich einen freien Geist, ihre Eltern nennen sie verantwortungslos. Manchmal denkt Bernie, wenn sie ihr den Namen Joan gegeben hätten, statt sie Blossom zu taufen, wäre sie vielleicht vernünftiger geworden und könnte Elternpflichten übernehmen, statt nur Mutter zu sein. In den Sommermonaten verkauft Blossom auf Open-Air-Rockkonzerten T-Shirts, Kerzen, Räucherstäbchen, Protest-Buttons, Haschpfeifen, Drehpapier, Bongs und solche Sachen. Mit dreiunddreißig ist sie immer noch ein Groupie und bezeichnet sich als New Age Traveler. Barton und Bernie haben Antigone infolgedessen fast seit ihrer Geburt bei sich, was sie als Glück und Segen betrachten. Deshalb ist es schwierig, sich kritisch mit den Einzelheiten ihrer Geburt zu befassen. Man weiß nicht, wer der Vater war. Blossom behauptet, sie wisse es nicht, und vielleicht stimmt das, doch die hohen Wangenknochen und das schwarze Haar des Mädchens lassen auf hispanisches oder indianisches Blut schließen. Sie ist groß für ihr Alter und dünn wie eine Bohnenstange. Sie hat lange, schlanke Finger und kann den Webstuhl fast genauso gut bedienen wie ihre Großeltern. Sie geht in Brewster in die fünfte Klasse. Dort nennt man sie Tig, was okay ist. Ein paar Jungen nennen sie The Tigster, was nicht okay ist, aber sie wird nicht wütend oder beschimpft sie. Sie schaut sie einfach nicht an und spricht nicht mit ihnen, was genauso ist, als wären sie gar nicht
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