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Das Fest der Schlangen

Das Fest der Schlangen

Titel: Das Fest der Schlangen
Autoren: Stephen Dobyns
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da.
    Antigone ist diejenige, die um diese Zeit noch wach ist, und sie lauscht dem Kläffen der Kojoten hinter der Steinmauer, die ihre zwei Hektar große Weide umgibt. Sie versucht sie zu zählen und herauszufinden, wie groß das Rudel ist. Hin und wieder wird das Gekläffe vom kurzen Bellen eines der über vierzig Kilo schweren Bouviers unterbrochen, entweder von Gray oder von Rags, zwei Hunde, die sie schon ihr ganzes Leben lang kennt, wie ihr scheint, und die sie auf einem Wägelchen auf der Farm herumgezogen haben, als sie klein war. Solange die Hunde an der Mauer entlangstreifen, wird kein Kojote herüberkommen. Tig fragt sich nur, wie viele Kojoten da draußen sind. Barton hat gesagt, er habe kürzlich bei Tagesanbruch ein Rudel von ungefähr zehn Stück draußen auf der Straße gesehen, und Tig schätzt, dass es ungefähr so viele auch sind, die sie da kläffen hört, als ob sie über die Schafe diskutierten: wie gut sie schmecken und was man da machen kann. Solche Gedanken würden Tig normalerweise nicht am Einschlafen hindern, aber jetzt liegt Barton fest, weil er ein neues Kniegelenk bekommen hat, und sie ist sicher, dass die Kojoten das wissen, denn noch heute Abend hat sie gesehen, wie zwei von ihnen über die Weide streiften, verfolgt von Gray. Die Kojoten wissen, dass Barton festliegt, sie wissen, dass die Hunde alt werden, und als Tig das Kläffen hinter der Mauer hört, denkt sie, dass die Kojoten deshalb so aufgeregt sind. Wenn sie so kläffen, hört es sich an, als ob sie Pläne schmieden.
    Entstanden ist die Stadt Brewster aus Brewster Corners, einer Poststation an der Boston Post Road zwischen Stonington und Providence, in den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts erbaut von Wrestling Brewster, einem Urenkel von Elder William Brewster, einem Prediger, der auf der Mayflower herüberkam. Wrestling Brewster stammte von Elder Brewsters gleichnamigem Sohn ab, der 1640 aus der Kolonie Massachusetts Bay hinausgeflogen war, weil er die Geistlichkeit kritisiert hatte. So war Streitsucht vielleicht ein unvermeidlicher Teil seiner Natur. Als Wrestling Brewster die Poststation eröffnete, war Hannaquit ein winziges Fischerdorf, das man den Narragansetts während King Philips Krieg abgerungen hatte. Bald entstanden in der Nähe der Poststation ein paar Häuser und eine Schmiede und dann auch eine Getreidehandlung und eine Kirche.
    Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts begann die Ausdehnung zum Meer hin. Weitere Häuser wurden gebaut, aus Brewster Corners wurde schlicht Brewster, und es blieb, wo es war, überschattet von Wakefield im Norden und Westerly im Süden. Im Jahr 19 07 schluckte Brewster dann in einem Anfall von Ehrgeiz das Küstendorf Hannaquit, ohne den Brückenkopf an der Poststraße aufzugeben, die mittlerweile Route 1 hieß. Von da an bis 1950 wuchs Brewster schubweise durch Fischerei und Landwirtschaft – hauptsächlich Kartoffelanbau –, aber auch ein Steinbruch kam dazu, eine Strickerei und eine kleine Konservenfabrik am Fluss. Seit der Mitte des Jahrhunderts bleibt die Zahl der Einwohner ziemlich stabil bei siebentausend, und sie verdoppelt sich nach dem Memorial Day, wenn die Sommergäste kommen. Als die Stadt ins einundzwanzigste Jahrhundert eintritt, gibt es noch ein einziges Muschelfischerboot, das mit den Booten aus Stonington konkurriert, die Kartoffelfarmen produzieren Fertigrasen, der Steinbruch, aus dem die Granitblöcke zum Bau der Stadt stammten, liefert nur noch Schotter, die Strickerei steht seit fünfzig Jahren leer und wird bald einstürzen, die Konservenfabrik wurde abgerissen und ist bei fast allen in Vergessenheit geraten – außer bei Mrs. Loy im Ocean Breezes, dem Altenheim in der Oak Street, denn sie hat vor mehr als achtzig Jahren bei der Arbeit in der Fabrik zwei Finger verloren, und noch immer fuchtelt sie mit der verstümmelten Hand vor dem Pflegepersonal herum und krächzt: »Sehen Sie diese Hand? Die Fische haben noch gebissen.« Alle haben die Nase voll von ihr.
    Wir sehen das Ocean Breezes vier Straßen weit östlich des Krankenhauses, als wir uns über die Stadt erheben: ein Pensionsgasthof aus dem neunzehnten Jahrhundert, der durch Abriss und Ausbau, Erweiterungen und Renovierungen in eine Seniorenresidenz umgewandelt wurde, wie man so etwas heute nennt. Fast nirgendwo brennt dort Licht, auch wenn zwanzig schlaflose alte Leute an die Decke starren und sich staunend oder bestürzt fragen, wo sie sich befinden. So ist es immer, wenn ihre Zahl sich
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