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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman
Autoren: H kan Nesser
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Abend saß er mit dem Brief in der Küche. Las ihn noch einmal, bei einer Tasse Kaffee, die auf dem geblümten Wachstuch stand.
    Lang war der Brief nicht. Knappe anderthalb Seiten. Er schloss die Augen und versuchte ihr Bild vor sich zu sehen.
    Ihre schwarzen, vom Tode gezeichneten Augen auf der anderen Seite des Gitters. Ihre verkrampften Hände.
    Und ihre Mitteilung.
    Nein, es konnte keinen Zweifel geben.

II
20. April – 5. Mai 1994

2
    Es war einer von diesen Ausflügen.
    Natürlich hätten vier Erwachsene dabei sein müssen. Oder zumindest drei. Das war auch so geplant gewesen, aber eine halbe Stunde vor Aufbruch hatte Henriette angerufen und wegen einer ihrer vagen Unpässlichkeiten abgesagt. Gleich darauf war ihnen aufgegangen, dass Hertl zur Unterstützung der Krankenschwester zurückbleiben musste. Die wurde nämlich an diesem Nachmittag erwartet und sollte die Zweijährigen impfen.
    Also blieben noch Elisabeth und Moira. Dass Moira früher oder später von Migräne gequält werden würde, war ohnehin selbstverständlich. Weshalb sie eigentlich für die ganze Bande allein verantwortlich war. Aber egal, es war ja nicht das erste Mal.
    Vierzehn Kinder. Im Alter zwischen drei und sechs. Eunice, 6, eröffnete das Fest damit, dass sie schon nach vierhundert Metern im Bus loskotzte. Paul, 3, pisste sich derweil die Stiefel voll. Ellen und Judith, 4 und 5, versuchten einander im Streit um ein grünes Halstuch mit rosa Kaninchen die Augen auszukratzen. Emile, 3½, schrie so laut nach seiner Mama, dass der ganze Bus dröhnte, und Christophe, 6, hatte Zahnschmerzen.
    Immerhin erreichten sie lebend die Haltestelle auf der Lichtung im Wald. Rasch zählte sie ihre Lieben durch. Es stimmte. Vierzehn Stück, mit Moira fünfzehn. Sie holte tief
Atem. Drei Stunden mit Waldspaziergängen, Würstchengrillen, Schatzsuche und allerlei botanischen Untersuchungen lagen vor ihnen. Durch die Baumkronen konnte sie den dunkel werdenden Himmel ahnen und sie fragte sich, wie bald wohl der Regen über sie hereinbrechen würde. Das sollte knapp fünfunddreißig Minuten dauern, wie sich herausstellte, und inzwischen waren sie schon ziemlich tief in den Wald hineingegangen. Moira spürte den Druck auf der Stirn und lief fünfzig Meter vor den anderen her, um den Druck nicht schlimmer werden zu lassen. Erich und Wally pöbelten Eunice an, weshalb dieses dicke Kind nicht mehr bei den anderen sein wollte, sie lief allein und maulend zwischen den Bäumen, statt auf dem Weg zu bleiben, aber Elisabeth rief sie ab und zu und blieb auf diese Weise mit ihr in Kontakt. Einer der Jömpers-Zwillinge war gestolpert, mit dem Kopf gegen eine Wurzel geschlagen und musste deshalb getragen werden. Sein Bruder hüpfte hinter ihr her und zog mit verdreckten Fingern an ihrem Gürtel.
    »Jetzt regnet’s«, schrie Bartje, 4.
    »Ich will nach Hause«, rief Heinrich, 5.
    »Pissgören«, erklärten Erich und Wally. »Geht nach Hause und fickt eure Mutter.«
    »Fickt«, piepste ein anonymer Dreijähriger.
    »Haltet die Fresse, Wally und Erich«, fauchte Elisabeth. »Sonst schneid ich euch die Ohren ab!«
     
    Moira stand vor der Wanderhütte, in der sie zu Mittag essen wollten.
    »Was für ein Glück«, flüsterte sie, als die anderen sie eingeholt hatten. Sie musste flüstern, um ihre Migräne in Schach zu halten. »Jetzt los, damit wir ins Trockene kommen!«
    Noch ehe Wally an der Tür angelangt war, wusste Elisabeth, dass diese abgeschlossen war, und dass der Schlüssel in Hertls Handtasche im Personalzimmer des Kindergartens steckte.

    »Die Scheißtür ist zu!«, schrie Wally. »Lass den Schlüssel rüberwachsen!«
    Moira blickte sie verständnislos an. Elisabeth seufzte. Kniff die Augen zusammen und zählte bis drei. Der Regen strömte auf sie hernieder und sie spürte, wie ihre Absätze langsam im triefnassen Gras versanken.
    »Ich friere«, jammerte der eine Jümperszwilling auf ihrem Arm.
    »Ich hab Hunger«, erklärte der andere.
    »Habt ihr den Schlüssel vergessen, ihr Blödis?«, schrie Erich und schmiss einen Lehmklumpen an die Hüttenwand.
    Elisabeth dachte noch drei weitere Sekunden nach. Dann packte sie ihren am Kopf verwundeten Patienten in Moiras Arme, lief auf die Rückseite des Hauses und schlug ein Fenster ein.
     
    Einige Zeit später hatte der Regen aufgehört. Aller Proviant war verzehrt, sie hatte achtzehn Märchen vorgelesen, die sie schon achtzehnhundertmal vorgetragen hatte, einige Fünf- und Sechsjährige hatten die Umgebung erforscht
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