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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman
Autoren: H kan Nesser
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abgenutzte Kopfsteinpflaster. Wanderte langsam am braunen, morastigen Fluss entlang, auf dem träge Enten in zeitloser Leichtigkeit umherschwammen. Das allein, einfach zu gehen, ohne an einer Mauer oder einem Gitter zu enden, war schon seltsam. Er blieb auf einer Brücke stehen und betrachtete eine Schwanenfamilie, die auf einem Inselchen im Schatten der am Ufer wachsenden Kastanienbäume Rast machte. Betrachtete auch diese gewaltigen Bäume, deren Zweige ebenso nach oben zu streben schienen wie nach unten. Zum Wasser wie zum Licht.
    Die Welt, dachte er. Das Leben.

     
    Ein pickliger Jüngling stempelte mit sichtlichem Widerwillen seine Fahrkarte. Einfache Fahrt, ja, das war doch klar. Er schaute den Knaben kurz an und ging dann weiter zum Kiosk. Kaufte zwei Tageszeitungen und eine Zeitschrift mit großen nackten Brüsten, was ihm aber gar nicht peinlich war. Dann eine Kanne Kaffee im Cafe, frische Brötchen mit Käse und Marmelade. Ein oder zwei Zigaretten. Der Zug ging in einer Stunde, und es war noch immer Morgen.
    Der erste Morgen seiner zweiten Rückkehr und die ganze Welt war voller Zeit. Voller Unschuld und Zeit.
     
    Stunden später näherte er sich seinem Ziel. Einige Dutzend Kilometer saß er nun schon allein im Abteil. Schaute aus dem zerkratzten und verdreckten Fenster, sah Felder, Wälder, Orte und Menschen an sich vorbeiziehen, und plötzlich wurde alles deutlich. Zeigte seinen eigenen, ganz besonderen Inhalt. Häuser, Straßen, der innere Zusammenhang der Landschaft. Der alte Wasserturm. Der Fußballplatz. Die Fabrikschlote und die Villengärten. Gahns Möbelfabriken. Der Marktplatz. Das Gymnasium. Die Straßenüberführung und die Häuser in der Einkaufsstraße. Und dann fuhr der Zug langsamer.
    Der Bahnsteig war mit einem neuen Dach aus blassgelbem Kunststoff versehen worden, das registrierte er gleich beim Aussteigen. Die Bahnhofsfassade war renoviert. Und es gab neue Schilder.
    Ansonsten sah alles aus wie früher.
     
    Er nahm ein Taxi. Verließ den Ort. Fünfzehn Minuten übellaunige Fahrt in Richtung See, der manchmal verschwand und manchmal zwischen Äckern und Laubbäumen glitzerte, dann war er da.
    »Halten Sie bei der Kirche. Ich gehe den letzten Rest zu Fuß.«
    Er bezahlte und stieg aus. Die Art, wie der Fahrer ihm
zum Abschied winkte, kam ihm bekannt vor. Er wartete, bis das Auto gedreht und hinter der Molkerei verschwunden war. Dann packte er seine Tasche und die Plastiktüte mit den Waren, die er für die nächsten Tage brauchte, und machte sich an die letzte Etappe.
    Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel. Bald strömte ihm der Schweiß über das Gesicht und die Schulterblätter. Es war weiter als in seiner Erinnerung, außerdem ging es steiler bergauf.
    Aber er war schließlich seit zwölf Jahren nicht mehr hier gewesen.
     
    Auch das Haus war zwölf Jahre älter, aber immerhin stand es noch. Sie hatte wie versprochen den Weg zur Vortreppe freigelegt, aber das war auch alles. Die Grenze zwischen Garten und Wald schien verwischt zu sein, kleine Birken waren schon weit vorgerückt, Gras und Schlingpflanzen und Gestrüpp wuchsen an den Wänden meterhoch. Das Dach des Schuppens war eingesunken, die Dachziegel sahen angegriffen aus, ein Fenster im Obergeschoss war zerbrochen, aber das interessierte ihn nicht weiter. Sofern er sich überhaupt etwas vorgestellt hatte, sah alles ungefähr so aus wie erwartet.
    Der Schlüssel hing am abgemachten Ort unter der Regenrinne. Er schloss auf. Stemmte die Schulter gegen die Tür und drückte zu, damit sie sich öffnete. Sie hatte sich offenbar ein wenig verkeilt.
    Es roch muffig, aber nicht übermäßig. Nichts war verfault, und Ratten gab es offenbar auch nicht. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
    Sie wünsche ihm alles Gute, stand dort. Mehr nicht.
    Er stellte Tasche und Tüte aufs Sofa unter der Uhr und schaute sich um. Lief umher und öffnete die Fenster. Im Schlafzimmer blieb er vor dem Spiegel stehen und betrachtete sich.

    Ihm fiel auf, dass er alt geworden war. Sein Gesicht war grau und eingefallen. Die Wangen dünner und verkniffener. Die Haut am Hals hing schlaff und faltig herab. Seine Schultern waren krumm und sahen auf irgendeine Weise bedrückt aus.
    Siebenundfünfzig Jahre, dachte er. Vierundzwanzig hinter Gittern. Kein Wunder.
    Er drehte sich um und suchte nach einer Waffe. Eine Waffe brauchte er ja auf jeden Fall, und je schneller er die Sache erledigte, desto besser. Falls ihn nicht wieder Zweifel überkommen sollten.
     
    Gegen
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