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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir
Autoren: Christa Bernuth
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habesich Anne Martenstein von ihren Freunden verabschiedet, um nach Hause zu gehen. Seitdem sei sie vermisst.
    Wie üblich folgt eine Beschreibung. »Anne ist blond«, sagt die Moderatorin mit ihrer rauen, einschmeichelnden Stimme, und ich drehe die Lautstärke automatisch höher, während sie fortfährt: »Anne trägt ihre blonden Haare als klassischen kinnlangen Pagenkopf. Sie ist sehr schlank und hat zuletzt Jeans, einen olivgrünen Parka und hochhackige Stiefeletten getragen. Die Polizei von Leyden ist dankbar für jeden Hinweis. Und noch etwas, liebe Hörer: Alle befragten Zeugen sind sich sicher, dass Anne sich melden würde, wenn sie es könnte. Bitte helfen Sie mit, das Mädchen rasch zu finden.«
    Sie wiederholt den Namen noch einmal eindringlich.
    Anne.
    Das Gefühl verlagert sich in ihre Finger, sie besteht eigentlich nur noch aus Fingern, nein, weniger als das: aus Fingernägeln, nein auch nicht, sondern aus dieser fadendünnen Trennlinie zwischen Finger und Nagel: Darauf reduziert sich ihre gesamte Existenz. Wenn sie an der Wand kratzt, spürt sie diese Linie, und das tut weh, aber immerhin fühlt es sich lebendig an, und sie vergisst die Schmerzen und den Hunger, die ihren restlichen Körper quälen.
    Sie spürt die klebrige, abblätternde Farbe unter ihren Fingernägeln. Sie riecht und kaut daran. Es schmeckt bitter.
    Sie kratzt an der Wand, um sich zu vergewissern, dass es sie noch gibt. Sie presst sich an die Wand und riecht daran, saugt den modrigen Geruch nach Feuchtigkeit und Schimmel ein.
    Dann reibt sie ihren ganzen Körper an der Wand, vorne und hinten, denn es juckt sie überall. Sie hat sich seit mehreren Tagen nicht gewaschen. Am Anfang war das fast so schrecklich wie die Angst: die Gewissheit, furchtbar auszusehen, monströs und hässlich wie ein Zombie.
    Sie war einmal eitel, aber das ist vorbei. Es ist immer stockdunkel, und es ist ihr egal, wie sie aussieht. Obwohl sie spürt, dass sie beobachtet wird. Es ist doch nicht möglich, dass sie niemand sieht. Und wenn es Gott ist.
    Sie betet, obwohl sie Gott scheiße findet, denn er hat sie hierhergebracht. Sie betet mit offenen Augen, weil ihr schwindlig wird, wenn sie sie schließt, und weil es so schrecklich ist, sie wieder aufzumachen und wieder nichts zu sehen. Wenn sie schläft, hat sie helle farbige Träume. Kitschige Träume von leuchtend grünen Wiesen und Sonne und Küssen unter Bäumen.
    Dann wacht sie auf und alles ist dunkel. Sie schließt die Augen und weint. Wenn sie das tut, sieht sie rote Blitze, und das ist immer noch besser als das allgegenwärtige Schwarz.
    Ich finde mich auf einem Parkstreifen wieder, den Kopf auf das Steuer gelegt. Die Angst hält mich im Würgegriff, und auf Stirn und Kopfhaut bricht mir der Schweiß aus. Ich richte mich auf, atme durch, steige aus, gehe zu dem Kiosk gegenüber und kaufe Zigaretten. Dann rauche ich im Auto, obwohl das in unseren Dienstwagen streng verboten ist. Ich blase den Rauch aus dem Seitenfenster hinaus, während neben mir der Verkehr braust. Ich stehe am Lessingdamm, das »Jensen« befindet sich nur ein paar Querstraßen weiter nördlich.
    Es gibt Hunderte blonde Mädchen in Parka und Jeans in Leyden, ich bilde mir da etwas ein. Aber, sagt jemand in mir, die waren nicht alle gestern Abend im »Jensen« verabredet. Ich kann mich nicht an die letzte Nacht erinnern, aber sehr wohl an einen schrecklichen Traum, den ich in dieser Nacht hatte, nachdem ich wieder nach Hause gekommen war.
    Ich habe sie gehabt, und ich habe mich an ihrer Furcht geweidet, und dann habe ich sie sanft in ihre wunderschöne milchfarbeneHaut geschnitten, immer tiefer, durch Sehnen und Adern, so lange, bis das Blut aufhörte zu fließen und ich zwischen dem klaffenden Fleisch den weiß leuchtenden Knochen sah.
    Ich rauche eine zweite Zigarette. Ich kämpfe gegen meinen Drang an, alles vergessen zu wollen, und versuche das Gegenteil, nämlich die gestrige Nacht so präzise wie möglich zu rekonstruieren.
    Anfangs war ich in einer Bar in der Münsterallee, einer Querstraße des Lessingdamms. Jetzt ist mir klar, dass ich mir dort Mut angetrunken habe. Denn nach ein paar Drinks bin ich ins »Jensen« gegangen. Dort habe ich weitergetrunken. Ich saß auf einem Hocker am Tresen, das weiß ich noch. Ich starrte mich selbst im Spiegel über der Bar an: einen Ehemann und Vater, der gerade fünfzig geworden war.
    Eine Frau mit langen, schwarz gefärbten Haaren, viel älter als Anne, wollte ein Gespräch anfangen, aber ich
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