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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir
Autoren: Christa Bernuth
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aber nicht gewählt. Er ist immer noch Mitglied des Senats und – wenn sie sich richtig erinnert – Leiter des Baudezernats.
    »Ich will Anzeige erstatten«, sagt Martenstein ruhig, aber übertrieben deutlich, wie jemand, der mit einer Schwerhörigen redet. Seine Augen lassen sie nicht los. Sie sind wirklich sehr blau und stechend wie Laserstrahlen. Sina überlegt, was für harmlose Erklärungen es geben kann, wenn ein Mädchen ausgeht und nicht mehr nach Hause kommt.
    »Wie alt ist Anne?«, fragt sie schließlich.
    »Gerade sechzehn …«
    »Hatte sie Schwierigkeiten? Gab es Streit zu Hause?«
    Sie merkt, wie er eine Sekunde lang zögert, bevor er den Kopf schüttelt und nichts sagt.
    »Wirklich nicht?«
    »Nein. Alles in Ordnung.«
    »In der Schule?«
    »Alles in Ordnung. Sie war … ist … gut. Sie ist Klassensprecherin.«
    Er starrt sie nicht länger an, sondern schaut auf den Boden.
    »Was sagst du?«, fragt Sina ihren Kollegen.
    Jeder nennt Gronberg nur beim Nachnamen, außer ihr manchmal. Er hat noch sieben Jahre bis zur Pensionierung undkeine Lust mehr. Morgens kommt er oft zu spät und nachmittags geht er als Erster. Sie sitzen in der Cafeteria im Untergeschoss, die nur so heißt, aber eigentlich eine Kantine ist. Sina isst eine Hühnersuppe mit fettigem Fleisch, und Gronberg säbelt sich durch das zäh aussehende Holzfällersteak.
    »Was?«, fragt Gronberg zurück und würgt einen Fleischbrocken hinunter.
    »Das verschwundene Mädchen.«
    »Welches …«
    »Mann, Gronberg, das weißt du genau«, sagt Sina.
    Gronberg fragt sie oft, ob sie mit ihm Mittagessen geht, und anfangs hatte sie gedacht, er tue das, weil er sie nett findet. Mittlerweile hat sie den Verdacht, dass er nur nicht beim Alleinessen gesehen werden will.
    »Rede mit mir«, sagt sie und taucht ein Stück Weißbrot in die fettige Brühe. Gronberg macht sich derweil über die mit Quark gefüllte Kartoffel her. Sina hat noch nie einen Menschen so viel essen sehen, der gleichzeitig so dünn ist wie Gronberg. Er muss einen phänomenalen Grundumsatz haben.
    »Ich glaube, da kommt was auf uns zu«, sagt er schließlich kauend und schluckend.
    »Danke.«
    »Wie?«
    »Dass du mit mir redest. Meine Anwesenheit würdigst.«
    »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    Sie gibt auf und konzentriert sich auf ihre Suppe.

2
    Am nächsten Morgen stehe ich sehr früh auf, während sich Birgit von mir abwendet und weiterschläft, weil sie erst später in die Redaktion muss. Ich würde gern meine morgendliche Joggingrunde drehen, stelle unten auf der Straße aber fest, dass es über Nacht zu glatt geworden ist – im Radio wurde bereits gestern vor überfrierender Nässe gewarnt. Also gehe ich wieder nach oben, dusche, ziehe mich an und wecke die Mädchen.
    Teresa tut so, als würde sie mich nicht hören. Sie hat die Decke über den Kopf gezogen; man sieht nur eine dünne blonde Strähne auf dem Kopfkissen.
    Wir haben sie gestern Abend noch einmal zur Rede gestellt. Sie ist fünfzehn, ihr Freund sechzehn. Das, was sie tun, ist, juristisch gesehen, ungesetzlich.
    Andererseits kann man es ihr nicht einfach verbieten, das ist nicht mehr zeitgemäß.
    Das Gespräch verlief ruhig, aber es hat mich immerhin so aufgewühlt, dass ich nicht einschlafen konnte. Alles schien sich auf schicksalhafte Weise gefügt zu haben, meine Tochter, die scheinbar über Nacht geschlechtsreif geworden ist, das fremde Mädchen, das meine Gefühle in Beschlag nimmt, die Erinnerungen, die ich so sorgfältig im hintersten Winkel meines Langzeitgedächtnisses verstaut hatte.
    Kira sitzt krumm am Tisch und frühstückt bereits ihre Cornflakes, als ich noch einmal in Teresas Zimmer gehe. Sie ist tatsächlich immer noch nicht aufgestanden, dabei ist es schon Viertel vor acht. Ich überlege kurz, sie als erzieherische Maßnahme einfach liegen zu lassen. Soll sie doch die Konsequenzenselber tragen. Aber das müsste ich erst mit Birgit besprechen, und dafür ist keine Zeit mehr.
    Ich fasse sie an der Schulter, spüre ihre bettwarme, mädchenhaft weiche Haut und darunter ihre zarten Knochen. Ich ziehe sofort meine Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt, hole tief Luft. Sie fährt hoch, ist natürlich hellwach und gereizt und ruft, dass ich sie in Ruhe lassen soll.
    Schließlich steht sie doch murrend auf, schlappt in die Dusche, hasst mich, aber so, wie man seinen Vater hasst, der sich benimmt, wie sich ein Vater benehmen soll.
    Ich bin erleichtert, aber nur für den Moment.
    Es ist nicht
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