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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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stürzte der Frost herein, ein grauer Wolf, ein wütender, ein hungriger grauer Wolf. Es war dunkel, obwohl die Sonne draußen schien. Aber durch die runde Dachluke schickte der eisblaue, unerbittliche Himmel nur spärliches Licht auf den Dachboden. Es herrschte da oben eine Art frostigen blauen Halbdunkels. Beide Männer sahen fahl aus.
    Wohin? Wohin? – das war die Frage. »Die anderen alle«, sagte Kapturak, »habe ich befreit und habe sie laufen lassen, wohin sie wollten. Es war vielleicht ein Fehler. Ich hätte sie vielleicht zusammenhalten müssen. Aber mit dir – ich weiß nicht, was da geschehen soll. Ich glaube, es ist am besten, du gehst nach Szwaby zurück, nach Hause. Wer sollte dich dort erkennen? Euphemia wird dich nicht verraten, und Sameschkin ist ein dummer Kopf, er wird dich nicht erkennen. Bleibt noch der Eibenschütz übrig! Allerdings, der Eibenschütz!« – »Was macht man also mit ihm?« fragte Jadlowker. Er erhob sich. Er konnte unmöglich sitzen bleiben, wenn es sich um Eibenschütz handelte.
    Kapturak, der die ganze Zeit still gestanden war, begann, auf und ab zu wandeln. Es sah so aus, als wollte er es sich warm machen, aber in Wirklichkeit fror er gar nicht, es war ihm geradezu heiß vor lauter Nachdenken. Lange schon hatte in ihm der Gedanke gelebt, daß es in dieser Welt besser wäre, wenn der Eichmeister Eibenschütz nicht da wäre.
    »Der Eibenschütz muß weg«, sagte er – und blieb stehen.
    »Wieso?« fragte Jadlowker.
    »Zuckerhut!« sagte Kapturak, – nichts anderes. Er blieb eine Weile stehen. Dann sagte er: »Wir fahren hinunter, heute abend. Zuckerhut!« wiederholte er. »Ich hole dich, Jadlowker!«
    Bevor er den Dachboden verließ, machte Kapturak noch ein Zeichen mit beiden Händen. Es sah aus, als hielte er einen Zuckerhut in den Händen und als schlüge er ihn auf irgend jemanden nieder. Leibusch Jadlowker nickte.

XXXIX
    Am Abend fuhren sie im Schlitten hinaus, nach Szwaby, Kapturak und Jadlowker. Jadlowker hüllte sich in einen Schafspelz mit hohem Kragen, damit man ihn nicht erkenne.
    Es war bereits finstere Nacht, als sie ankamen und durch das breite, offene Tor der Grenzschenke hineinfuhren. Jadlowker pochte an die Hintertür, das hochgewölbte, rot angestrichene Tor, das zur Landstraße führte. Kapturak ging geradewegs in die Schenke.
    Es gab wenig Gäste heute, es war Dienstag. Es dauerte lange, ehe Onufrij das Pochen hörte und hinausging, um das rückwärtige Tor zu öffnen.
    »Ich bin es«, sagte Jadlowker, »laß mich schnell hinein. Ist der Gendarm da?«
    »Komm, Herr«, sagte Onufrij, der gar nicht wußte, daß Leibusch Jadlowker zu den Toten gehörte. »Bist du aus dem Kriminal entkommen?«
    »Ja, mach schnell!« sagte Jadlowker, und dann, als sie an die Laterne kamen: »Erkennt man mich?«
    »Nur an der Stimme, Herr!« sagte Onufrij.
    »Wo ist Euphemia?« fragte Jadlowker.
    »Noch im Laden!« flüsterte Onufrij. »Und vor dem Laden steht Sameschkin mit den Kastanien.«
    »Es ist gut«, sagte Jadlowker. »Geh hinein!«
    Der Hund, Pavel hieß er, sah Jadlowker entgegen, mit freudig schnuppernder, erhobener Schnauze und wedelndem Schwanz. »Bell nicht! Schrei nicht!« flüsterte ihm Jadlowker zu. Der Hund sprang still und schweigsam an ihm hoch und leckte ihm die Hände.
    Jadlowker sah zuerst durch die Fenster, die in den Hof gingen. Die Schenke war beinahe leer. Er hatte nicht vergessen, unterwegs aus dem Schlitten zu steigen, als sie, Kapturak und er, an der gefrorenen Struminka vorbeifuhren, und einen der kantigen, großen Steine auszugraben, aus dem Schnee, deren es dort eine Unzahl gab. Diesen Stein band er ins Taschentuch.
    Er ging vom Fenster zurück, lauerte vor dem Tor. Eine ungeheuerliche, unwiderstehliche Lust erfüllte ihn, zu töten. Er dachte gar nicht mehr an den eigentlichen Zweck seines Mordens, sondern nur an das Morden selbst. Er dachte gar nicht an seine eigene Sicherheit, sondern nur an das Töten. Eine große Welle von Wollust, von Haß und Tötenwollen ging durch sein Herz. Erbarmungslos war alles in dieser Nacht und in dieser Welt. Fremd, kalt und silbern, in einem frostigen, nahezu gehässigen Silber standen heute die Sterne am Himmel. Von Zeit zu Zeit sah Jadlowker empor. Heute haßte er den Himmel und die Sterne. Und im Kerker hatte er sich so nach ihnen gesehnt!
    Warum haßte er heute den Himmel, der Jadlowker? Glaubt er, daß Gott oben sitzt, hinter den Sternen? Vielleicht glaubt er es, aber er will es sich nicht zugeben. Immer
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