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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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gewöhnliche Schiefertafel, auf der die Frau Blume Singer alle paar Tage und besonders, wenn es geregnet hatte und die Schrift unleserlich geworden war, ihren Namen mit Kreide erneuerte. Es war ein winziges Häuschen: Es bestand aus einem Zimmer und einer Küche, und die Küche war zugleich der Laden. Auf einem winzigen Viereck freien Bodens vor dem Eingang lag ein mittlerer Misthaufen und daneben eine hölzerne Bude. Es war die Toilette der Familie Singer. In ihrer Nähe, gewöhnlich auf dem Müllhaufen, über dem jetzt eine dicke Kruste Schnee und Eis lag, spielten die beiden Knaben Singer in den spärlichen Stunden, in denen sie nicht lernen mußten. Denn sie mußten lernen. Zumindest einer von ihnen sollte einmal das Erbe seines Vaters Mendel antreten.
    Ach! Es war gar kein materielles Erbe, Gott bewahre! Es war lediglich der Ruf eines Gelehrten und eines Gerechten. Im Zimmer hinter der Küche und dem Laden lernte Mendel Singer Tag und Nacht, zwischen den zwei Betten, von denen jedes an je einer Wand lehnte. In der Mitte lagen auf dem Fußboden die Strohsäcke der Kinder.
    Niemals hatte sich Mendel Singer mit etwas anderem befaßt als mit heiligen und frommen Worten, und es kamen auch zu ihm viele Schüler. Er lebte kümmerlich, aber er brauchte gar nichts. Zweimal in der Woche, Montag und Donnerstag, fastete er. An gewöhnlichen Tagen nährte er sich nur von Suppe. Er schlürfte sie aus einem hölzernen Teller, mit einem hölzernen Löffel. Am Freitagabend nur aß er Forellen in Sauce mit Meerrettich. Im Städtchen kannte ihn jedermann. Man sah ihn jeden Tag zweimal ins Bethaus rennen, hin und zurück. Auf dünnen Beinen huschte er dahin, in weißen Strümpfen und in Sandalen, über die er im Winter schwere Galoschen stülpte. Sein Mantel flatterte. Tief über den Augen ruhte die schwere Pelzmütze, ein ausgefranstes Fell. Sein schütterer Bart wehte. Seine harte Nasenschiene stieß gegen die Luft, es sah aus, als wollte sie dem Angesicht einen Weg bahnen. Nichts und niemanden sah er. Versunken und verloren war er in seiner Demut und in seiner Frömmigkeit und in Gedanken an die heiligen Worte, die er schon gelesen hatte, und an die Freude auf jene, die noch zu lesen waren. Jedermann achtete ihn, auch die Bauern aus der Umgebung kamen, wenn sie in Not waren, ihn um Rat und Fürsprach zu bitten. Obwohl es schien, daß er die Welt und die Menschen noch niemals gesehen hatte, erwies es sich doch, daß er die Welt und die Menschen verstand. Seine Ratschläge waren trefflich, und seine Fürbitten halfen.
    Um die irdischen Dinge des alltäglichen Lebens kümmerte sich seine Frau. Bei den wenigen reichen und wohlhabenden Leuten Zlotogrods hatte sie sich das Geld für die Konzession und für den Einkauf der Ware erbettelt. Ach! Welche Waren! Man bekam Zwiebeln, Milch, Käse, Eier, Knoblauch, getrocknete Feigen, Rosinen, Mandeln, Muskatnüsse und Safran. Aber wie winzig waren die Mengen, und wie furchtbar war die Beschaffenheit dieser Lebensmittel! In der kleinen, dunkelblau getünchten Küche mischte sich alles. Es sah aus, als wenn Kinder Verkäufer spielten. Das Säckchen mit den Zwiebeln und dem Knoblauch ruhte auf dem großen Eimer, in dem sich die saure Milch befand. Rosinen und Mandeln standen in Häufchen über dem Weißkäse, durch ein Fettpapier von ihrem Untergrund geschieden. Neben den zwei Rahmtöpfchen hockten, eine Art von Wachlöwen, die zwei gelben Katzen. In der Mitte, vom Plafond herab, hing an einem schwarzen, hölzernen Haken eine große, verrostete Waage. Und die Gewichte standen auf dem Fensterbrett.
    So arme Leute gab es in der Gegend nicht, die bei Blume Singer eingekauft hätten. Und dennoch konnten sie immerhin noch leben – so hilft Gott den Armen. Ein klein wenig Herz schenkt Er den Reichen, deshalb kommt von Zeit zu Zeit einer von ihnen und kauft irgend etwas, was er nicht braucht und was er auf der Straße fortschütten wird.

XXXVI
    Dies also war der Laden, in den am nächsten Morgen der Eichmeister Eibenschütz mit dem Gendarmen Piotrak eindrang. Obwohl ein starker Frost herrschte, sammelte sich doch ein gutes Dutzend Leute vor dem Laden an, und aus der Judenschule gegenüber liefen die Kinder hinaus. Es war etwa acht Uhr morgens, und Mendel Singer kam aus dem Bethaus. Als er die Ansammlung vor dem Häuschen sah, erschrak er, denn er fürchtete, es brenne bei ihm. Einige der Neugierigen liefen ihm entgegen und riefen: »Der Gendarm ist gekommen! Der Eichmeister ist gekommen!« Er
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