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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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zurückzugelangen, wenn er schon, dank seiner Frau, gezwungen war, die Armee, sein zweites und vielleicht sein eigentliches Nikolsburg, zu verlassen. Man brauchte aber um jene Zeit in ganz Mähren weder Sequester noch Konzipisten. Alle Gesuche des Eibenschütz wurden abschlägig beschieden.
    Da ergriff ihn zum erstenmal ein echter Zorn gegen seine Frau. Und er, ein Feuerwerker, der so vielen Manövern und Vorgesetzten standgehalten hatte, gelobte sich selbst, daß er von Stunde ab stark gegen seine Frau sein würde; Regina hieß sie. In seine Uniform hatte sie sich dereinst verliebt – fünf Jahre war es im ganzen her. Jetzt, nachdem sie ihn in vielen Nächten nackt und ohne Uniform gesehen und besessen hatte, verlangte sie von ihm Zivil und Stellung und Heim und Kinder und Enkel und was weiß man noch alles!
    Aber der Zorn nutzte gar nichts dem Anselm Eibenschütz, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, daß der Posten eines Eichmeisters in Zlotogrod frei sei.
    Er rüstete ab. Er verließ die Kaserne, die Uniform, die Kameraden und die Freunde.
    Er fuhr nach Zlotogrod.

II
    Der Bezirk Zlotogrod lag im fernen Osten der Monarchie. In jener Gegend hatte es vorher einen faulen Eichmeister gegeben. Wie lange war es her – die Älteren erinnerten sich noch daran –, daß es überhaupt Maße und Gewichte gab! Es gab nur Waagen. Nur Waagen gab es. Stoffe maß man mit dem Arm, und alle Welt weiß, daß ein Männerarm, von der geschlossenen Faust bis hinauf zum Ellenbogen, eine Elle mißt, nicht mehr und nicht weniger. Alle Welt wußte ferner, daß ein silberner Leuchter ein Pfund, zwanzig Gramm wog und ein Leuchter aus Messing ungefähr zwei Pfund. Ja, in jener Gegend gab es viele Leute, die sich überhaupt nicht auf das Wägen und auf das Messen verließen. Sie wogen in der Hand, und sie maßen mit dem Aug’. Es war keine günstige Gegend für einen staatlichen Eichmeister.
    Es hatte, wie gesagt, vor der Ankunft des Feuerwerkers Anselm Eibenschütz noch einen anderen Eichmeister im Bezirk Zlotogrod gegeben. Aber, was war das für ein Eichmeister gewesen! Alt und schwach und dem Alkohol ergeben, hatte er niemals die Maße und die Gewichte im Städtchen Zlotogrod selbst geprüft, geschweige denn in den Dörfern und Marktflecken, die zum Bezirk gehörten. Deshalb hatte er auch, als er begraben wurde, ein außerordentlich schönes Leichenbegängnis. Alle Kaufleute folgten seinem Sarge: die mit den falschen Gewichten wogen, mit dem silbernen und messingnen Leuchter nämlich, jene, die mit dem Arm von der geschlossenen Faust bis zum Ellenbogen maßen, und viele andere, die es ohne Eigennutz und lediglich gewissermaßen aus Prinzip bitter beklagten, daß ein Prüfer der Gewichte dahingegangen war, der selber kaum eines besessen haben konnte. Denn die Leute in dieser Gegend betrachteten alle jene, welche die Forderungen an Recht, Gesetz, Gerechtigkeit und Staat unerbittlich vertraten, als geborene Feinde. Vorgeschriebene Maße und Gewichte in den Geschäften zu halten war bereits eine Sache, die man kaum vor dem eigenen Gewissen verantworten konnte. Was aber bedeutete erst die Ankunft eines neuen, gewissenhaften Eichmeisters! Genauso groß, wie die Trauer gewesen war, mit der man den alten Eichmeister zu Grabe getragen hatte, war das Mißtrauen, mit dem man Anselm Eibenschütz in Zlotogrod empfing.
    Man sah nämlich auf den ersten Blick, daß er nicht alt, nicht schwächlich, nicht trunksüchtig war, sondern, im Gegenteil, stattlich, kräftig und redlich; vor allem: allzu redlich.

III
    Unter solch ungünstigen Bedingungen trat Anselm Eibenschütz sein neues Amt im Bezirk Zlotogrod an. Er kam im Frühling, an einem der letzten Märztage. In der bosnischen Garnison des Feuerwerkers Eibenschütz hatten schon die Eichkätzchen linde geschimmert, der Goldregen zu leuchten begonnen, die Amseln flöteten bereits auf dem Rasen, die Lerchen trillerten schon in der Luft. Als Eibenschütz nach dem nördlichen Zlotogrod kam, lag noch der weiße, dichte Schnee in den Straßen, und an den Rändern der Dächer hingen die strengen, die unerbittlichen Eiszapfen. Eibenschütz ging die ersten Tage einher wie ein plötzlich Ertaubter. Er verstand die Sprache des Landes zwar, aber es ging ja gar nicht so sehr darum, zu verstehen, was die Menschen sagten, sondern was das Land selber sprach. Und das Land redete fürchterlich: Es redete Schnee, Finsternis, Kälte und Eiszapfen, obwohl der Kalender den Frühling erzählte und in den Wäldern der
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