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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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heute besonders sehnsüchtig erwartet«, sagte sie flüsternd. Arm in Arm gingen sie an den Eßtisch. Während des Essens betrachtete er sie genau, und er bemerkte, was ihm offenbar bisher entgangen war, daß sie einen ihm unbekannten Ring am kleinen Finger trug. Er nahm ihre linke Hand und fragte: »Woher hast du den Ring?« – »Von meinem Vater«, sagte sie, »ich habe ihn nie getragen.« Es war ein billiger Ring, ein Männerring, mit einem künstlichen Saphir. Er sagte weiter: »Wozu hast du ihn plötzlich angezogen?« – »So, damit er uns Glück bringe«, sagte sie. »Uns?« – »Uns beiden!« bestätigte sie.
    Plötzlich sah er auch, wie sie sich verändert hatte. Ein neuer, großer Schildpattkamm hielt ihren dichten, schwarzblau schimmernden Haarknoten zusammen. Große goldene Ohrringe, die sie lange nicht mehr getragen hatte, Ohrringe, an denen winzige, feine Goldplättchen hingen, zitterten sacht an ihren Ohrläppchen. Ihr dunkelbraunes Angesicht hatte seine ganz jugendliche, geradezu eine jungfräuliche rötliche Tönung wiedergefunden. Eigentlich sah sie wieder aus wie einst, wie als Mädchen, als er sie kennengelernt hatte, in Sarajewo, wo sie im Sommer bei ihrem Onkel, dem Waffenmeister, eingeladen war.
    Mitten in diese seine Betrachtungen, die ihn ohnehin schon erschreckten, fiel ihr Wort unmittelbar, sozusagen ohne Sinn und Verstand. Es lautete: »Ich möchte endlich ein Kind haben.« Von wem? wollte er fragen, denn er dachte natürlich sofort an den Brief. Aber er sagte nur: »Warum jetzt? Du hast dir nie eins gewünscht. Du hast immer gesagt, eine Tochter würde keine Mitgift haben, und ein Sohn würde bestenfalls ein Eichmeister werden müssen wie ich.«
    Sie senkte die Augen und sagte: »Ich liebe dich so sehr!«
    Er stand auf und küßte sie. Er ging ins Amt.
    Es war ein ziemlich weiter Weg, und er erinnerte sich unterwegs, oder er glaubte, sich plötzlich erinnert zu haben, daß er den Ring mit dem künstlichen Saphir einmal, lange war es her, an der Hand des Schreibers Josef Nowak gesehen hatte. Ihm, dem Eichmeister, waren tückische und schlaue Verhandlungen zuwider. Dennoch beschloß er jetzt, tückisch und schlau vorzugehen.
    Der Schreiber erhob sich wie gewohnt, als der Eichmeister eintrat. Mit ungewohnter Freundlichkeit sagte der Eichmeister: »Guten Tag, lieber Nowak! Nichts Neues vorgefallen?« – »Nichts Neues!« sagte Nowak und machte dabei einen Bückling. Er blieb stehen, bis sich Eibenschütz gesetzt hatte.
    Eibenschütz las eine Weile in Papieren, dann sagte er, mit einem Blick auf die Hände Nowaks: »Wo ist denn Ihr Ring mit dem Saphir geblieben, Herr Nowak? Es war ein sehr schöner Ring!«
    Nowak schien nicht im geringsten verlegen. »Ich habe ihn versetzen müssen, leider versetzen müssen!«
    »Warum, Geldschwierigkeiten?« fragte der Eichmeister. Da verließ zum erstenmal die Vorsicht den blonden und ehrgeizigen Vertragsbeamten, und er sagte: »Wegen einer Frauengeschichte!«
    »Ja, ja«, sagte der Eichmeister, »als ich so alt war wie Sie, gab es auch noch Frauensachen!«
    Zum erstenmal sah der Schreiber seinen Vorgesetzten so freundlich. Aber er zweifelte nicht daran, daß man ihn nicht ertappt hatte.
    Diesmal täuschte er sich. Denn mit der Gründlichkeit, die ihm eigen war und die ihn zu einem so ausgezeichneten Prüfer der Gewichte und der Maße machte, beschloß Eibenschütz, der Sache genau nachzuspüren. Sein Herz war nicht mehr daran beteiligt. Er hatte nur eine flüchtige Vorstellung davon, daß seine Ehre beschädigt war – aber auch diese Vorstellung stammte lediglich aus der Militärzeit her und aus der Erinnerung an die Ehrbegriffe seiner Vorgesetzten, der Herren Offiziere. Es war nur, wie gesagt, eine flüchtige Vorstellung. Ihn, den Redlichen, trieb es vor allem, die ganze Wahrheit zu erforschen, man könnte sagen, Maß und Gewicht der Begebenheiten festzustellen und zu prüfen.
    Infolgedessen ging er auch ganz langsam und mit gesenktem Haupt nach Hause. Und wenn ihn die Leute unterwegs grüßten, tat er so, als sähe er sie nicht, aus Angst, sie könnten ihn etwa ansprechen und stören.
    Kurz bevor er sein Haus erreichte, hatte er bereits einen ganz bestimmten, sehr methodischen Plan. Und so, wie er nun einmal war, stand es fest, daß er genau nach den Plänen handeln mußte, die er sich zurechtgelegt hatte.

IX
    Eine Woche später bemerkte er, daß seine Frau den Ring mit dem falschen Saphir nicht mehr trug. Er sagte seiner Frau gar nichts.
    Eine Woche
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