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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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wieder, immer wieder sagt eine Stimme in ihm: Gott ist da. Gott sieht dich. Gott weiß, was du vorhast. Aber eine andere Stimme in ihm antwortet: Gott ist nicht da, der Himmel ist leer, und die Sterne sind kalt und fern und grausam, und du darfst machen, was du willst.
    Also wartet Jadlowker auf das bekannte Schlittengeklingel des verhaßten Eibenschütz. Das Taschentuch, in dem der Stein eingewickelt liegt, hat er mit den Zipfeln um sein Handgelenk gebunden; um das rechte Handgelenk. Er wartet. Eibenschütz wird kommen.

XL
    Eine halbe Stunde später kam Eibenschütz wirklich, leider in Begleitung des Gendarmen Piotrak. Jadlowker, der gedacht hatte, der Eichmeister würde allein kommen, sah bereits, daß er nichts auszurichten hatte. Vorerst verbarg er sich im Schatten der Scheune, die am Rande des Hofes gegenüber dem Tor stand, und wartete. Als er sah, daß der Eichmeister den Gendarmen vorausgehen ließ und daß er selbst den Schimmel ausspannte, erbebte sein Herz in wonniger, mörderischer Hoffnung. Bald danach näherte sich auch der Eichmeister dem Stall, um den Schimmel anzubinden an den großen, eisernen Ring, der an der Stalltür angebracht war.
    Während Eibenschütz den Schimmel anband, stürzte Jadlowker aus dem Stall hervor. Eibenschütz wollte noch einen Schrei ausstoßen, aber er sank sofort nieder, der Schrei erstarb in der Kehle. Jadlowker schlug mit dem Taschentuch, in dem der kantige Stein eingebettet war, gegen die Stirn seines Feindes, des Eichmeisters. Eibenschütz fiel mit gewaltigem, erschreckendem Krach zu Boden. Er war ein schwerer Mann, für so schwer hätte ihn Jadlowker niemals gehalten. Der Schimmel war noch nicht genügend festgekoppelt gewesen, die Schlinge löste sich, und der Gaul begann durch den Hof zu wandern, mit schleifenden Zügeln. Jadlowker beugte sich zuerst über den Eichmeister Eibenschütz. Kalt und tot war er, keinen Atemzug gab er von sich. Dann faßte Jadlowker den Schimmel und koppelte ihn fest an den eisernen Ring der Scheunentür. Hierauf kroch er in die Scheune.
    Zwei Stunden später erst kam der Wachtmeister Piotrak hinaus, um nach Eibenschütz zu sehen. Vor der Scheune fand er den Eichmeister anscheinend leblos, und der Gendarm rief den Knecht Onufrij, und sie beide schleppten den schweren Kadaver bis zum Schlitten. Onufrij holte Stricke, man schnallte den unbeweglichen Mann fest. Quer lag er über dem winzigen Schlitten. Man spannte den Schimmel an, der Gendarm nahm die Zügel. Man fuhr nach Zlotogrod, geradewegs ins Krankenhaus.
    Der Wachtmeister Piotrak glaubte zwar, er führe einen Toten; den Eichmeister, den er so neben dem Stall und der Scheune getroffen hatte, hätte der Schlag plötzlich getroffen. Aber dem war nicht so. Der Eichmeister begann zwar zu sterben, aber er lebte noch. Was weiß er davon, der arme Eibenschütz, daß man ihn auf den Kopf mit einem Stein geschlagen hat? Was weiß er davon, daß er mit Stricken auf einen Schlitten gebunden ist? Er erlebt, während man ihn für einen Toten hält, etwas ganz anderes:
    Er ist kein Eichmeister mehr, er ist selbst ein Händler. Lauter falsche Gewichte hat er, tausend, zehntausend falsche Gewichte. Er steht da, hinter einem Ladentisch, die falschen zehntausend Gewichte vor sich. Der Ladentisch kann sie gar nicht alle fassen. Und jeden Moment kann der Eichmeister kommen.
    Auf einmal klingelt es auch – die Tür hat eine Glocke –, und herein kommt der große Eichmeister, der größte aller Eichmeister – so scheint es Eibenschütz. Der große Eichmeister sieht ein bißchen aus wie der Jude Mendel Singer und ein wenig auch wie Sameschkin. Eibenschütz sagt: »Ich kenne Sie ja!« Aber der große Eichmeister antwortet: »Es ist mir ganz gleich. Dienst ist Dienst! Wir prüfen jetzt Ihre Gewichte!«
    Gut, mögen sie jetzt die Gewichte prüfen, sagt sich der Eichmeister Eibenschütz. Falsch sind sie, aber was kann ich dagegen machen? Ich bin ein Händler wie alle Händler in Zlotogrod. Ich verkaufe nach falschen Gewichten.
    Hinter dem großen Eichmeister steht ein Gendarm mit Helmbusch und Bajonett, und den kennt Eibenschütz gar nicht. Er fürchtet sich aber vor ihm, das Bajonett funkelt zu sehr. Der große Eichmeister beginnt, die Gewichte zu prüfen. Schließlich sagt er – und Eibenschütz ist höchst erstaunt: »Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen! Wir glauben, daß alle deine Gewichte richtig sind. Ich bin der Große Eichmeister.«
    In
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