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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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reglosen Fledermäuse, die über ihm ringsum an den Wäscheschnüren ihren Winterschlaf hielten. Zum erstenmal in seinem Leben hatte der wilde Jadlowker Angst. Und aus Angst allein verfiel er in einen tiefen, dennoch unruhigen Schlaf.
    Früh am Morgen erwachte er, der bittere Hauch des eisigen Morgens weckte ihn. Er kroch mühsam aus seinem Sack, tat einen Schluck aus der Flasche, zog sich den Pelz an und ging zur Dachluke. Scharen frisch erwachter Krähen zogen ihre Kreise um die Dächer, es sah aus, als flögen sie nur, um sich zu erwärmen. Er sah die rote Sonne aufgehn, sie sah aus wie eine Orange, und bei ihrem Anblick bekam er Hunger. Er wußte, er mußte noch gute zwei Stunden warten, bevor Kapturak mit dem Essen kommen würde. Er horchte nach der Falltür hin, gute zwei Stunden lang beschäftigte ihn nichts anderes als sein Hunger. Es war, als wäre der Hunger eine Angelegenheit des Kopfes und nicht des Magens. Kapturak erschien endlich mit Tee und Brot, aber nicht an der Tür, sondern an der Luke. Alles reichte er sehr langsam hinein, auf dem kurzen Weg, die Leiter hinauf, war der Tee schon kalt geworden, so groß war die Kälte. Jadlowker trank und aß hastig. »Nichts Neues?« fragte er nur. »Noch nicht«, antwortete Kapturak, stieg wieder die Leiter herunter und stellte sie ein bißchen seitwärts.
    Nachdem Jadlowker gesättigt war, begannen ihn andere Gedanken und Empfindungen zu beschäftigen. Er dachte plötzlich und ohne zu wissen, warum, an die schönen Karpfen und Hechte, die er auf dem Fischmarkt am Donnerstag immer verkauft hatte. Es beschäftigte ihn der Gedanke, daß er, um sie zu töten, sie am Schwanz gepackt und gegen einen Prellstein gestoßen hatte, und dabei erinnerte er sich daran, daß man Menschen auf die umgekehrte Weise umbringt. Man nimmt einen Stein – es kann auch ein Zukkerhut sein – und stößt ihn gegen den Kopf des Menschen. Seltsame Gedanken kommen einem, wenn man auf einem Dachboden eingesperrt ist. Man denkt daran zum Beispiel, daß man Feinde im Leben hat, und der größte aller Feinde ist der Eichmeister Eibenschütz, der Urheber allen Unglücks, der Liebhaber der Euphemia obendrein. Sameschkin ist auch ihr Liebhaber, aber das gehört in ein anderes Kapitel. Sameschkin hat alte Stammrechte, und außerdem ist er kein Beamter. Und außerdem hat er Jadlowker nicht ins Kriminal gebracht. Wenn der Eibenschütz nicht vorhanden wäre, so könnte man ruhig leben. Im Frühling geht Sameschkin weg. Der Wachtmeister Slama ist versetzt. Wer erkennt den Jadlowker in einem blonden Vollbart? So viele fremde Menschen kommen in diese Gegend! Man heißt ja gar nicht Jadlowker. Man hat schon einmal seinen Namen geändert! Man hat schon Fische beim Schwanz gepackt und mit dem Kopf gegen den Prellstein gehauen. Umgekehrt macht man es mit den Menschen. Man nimmt einen Zuckerhut und schlägt hinterrücks damit auf den Kopf? Aber wo? Aber wann? Eibenschütz ist nicht in der Nacht da, im Hafen von Odessa.
    Wenn Eibenschütz nicht wäre, so könnte man ruhig leben. Er ist aber da. Er darf nicht mehr dasein, er darf nicht mehr dasein, denkt Jadlowker. Er darf nicht mehr dasein. Daran denkt er fortwährend. Die Krähen setzen sich manchmal an die Dachluke. Jadlowker wirft ihnen einige Speisereste zu. Er sitzt und friert und wartet auf den Frühling, auf die Freiheit und auf die Rache.

XXXVIII
    Eines Tages geschah etwas Sonderbares: der staatliche Oberförster Stepaniuk fand im Grenzwald einen erhängten Mann. Er war kalt, starr und blau, als man ihn abschnitt. Der Bezirksarzt Kiniower sagte, er sei schon viele Tage tot, vor einer Woche etwa hätte er sich erhängt. Es war ein unbekannter Mann, und der Gendarm Piotrak verständigte den Untersuchungsrichter. Der kam aus Zlotogrod. Er überführte die Leiche ins dortige Schauhaus. Aus dem ganzen Bezirk wurden die Einwohner, je ein Dutzend, zu bestimmten Tagen vorgeladen, damit sie den Toten agnoszierten. Man hätte sie gar nicht vorzuladen brauchen. Aus Neugier allein strömten sie zusammen. Auch Sameschkin, obwohl er nicht vorgeladen war, weil er nicht zum Bezirk gehörte, ging hin, aus Neugier. Er allein aber erkannte den Toten: es war der Pferdehirt Michael Klajka. Vor zwei Jahren hatte man ihn eingesperrt. Er hatte zu jenen Sträflingen gehört, die man zur Bestattung der Cholerakranken bestimmt hatte. Und es war geschrieben und versiegelt, daß er im Spital an der Cholera verstorben war und an dem und dem Tag bestattet.
    Wie? Hatte er sich von
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