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Das Falsche Gewicht

Das Falsche Gewicht

Titel: Das Falsche Gewicht
Autoren: Joseph Roth
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erhielt Eibenschütz die Benachrichtigung vom Ableben des Sträflings Leibusch Jadlowker, zu dessen Beaufsichtigung die politische Behörde aus bestimmten Gründen den Eichmeister beauftragt hatte.
    Am Abend des gleichen Tages, als hätte er es gewußt, erschien Kapturak nach langer Zeit wieder in der Schenke. Er machte den gewohnten Bückling und setzte sich an den Tisch, an dem Eibenschütz, Sameschkin, Euphemia und der neue Wachtmeister Piotrak saßen. Alle Welt spielte Tarock, Kapturak verlor. Dennoch war er ausgelassen heiter.
    Man verstand nicht, warum. Er sagte außer den üblichen dummen Wendungen und sinnlosen Sprüchen, welche die Tarockspieler gebrauchen, noch neue, frisch erfundene, noch sinnlosere, wie zum Beispiel: »Das Schwein hat Wind!« – oder: »Ich verliere meine Hosenträger« – oder gar: »Misthaufen ist Gold« – und ähnliches mehr. Mitten zwischen diese Wendungen und während er so saß, als überlegte er angestrengt, welche Karte er jetzt herauszugeben hätte, sagte er, wie zerstreut und in dem Tonfall, in dem er soeben einen seiner unsinnigen Sprüche hergesagt hatte: »Herr Eichmeister, es ist Ihnen gelungen? Ihr Feind ist tot?« – »Welcher Feind?« fragte Eibenschütz. »Der Jadlowker!« Und in diesem Augenblick legte Kapturak eine Karte auf den Tisch. »Er war unter den Cholerasträflingen«, erzählte er weiter, »und da hat er sich angesteckt. Er verfault seitdem Monate unter der Erde. Seine Würmer sind schon satt.« Euphemia sagte: »Es ist nicht wahr«, sie wurde blaß. »Ja, es ist wahr!« sagte Eibenschütz, »ich habe die amtliche Nachricht.« Euphemia erhob sich ohne ein Wort. Sie ging die Treppe hinauf, sich auszuweinen. Sameschkin, als erster, legte die Karten hin, und er allein war es, der sagte: »Ich spiele nicht weiter!« Sogar der rothaarige Gendarm Piotrak legte die Karten weg, Kapturak allein tat noch so, als spielte er gegen sich selbst. Auf einmal legte auch er die Karten hin wie in einem plötzlichen Entschluß und sagte: »Also werden wir Gläubiger jetzt diesen Gasthof erben, wir sind unser sechs.« Dabei sah er den Eichmeister an.
    Es war sehr still am Tisch geworden, der brave Sameschkin konnte es kaum ertragen. Er erhob sich und ging zum Spielkasten ans Büfett, um einen Dreier hineinzuwerfen. Der Spielkasten begann sofort, den Rákóczimarsch mit großartigem Blechgetöse auszuspeien. Mitten in dem brausenden Lärm sagte Kapturak zum Gendarmen: »Wissen Sie, seitdem Sie hier sind, ist unser Eichmeister sehr streng geworden. Alle Händler verfluchen ihn, und drei haben schon durch ihn die Konzession verloren.« – »Ich tue meine Pflicht«, sagte Eibenschütz. Er dachte dabei an Euphemia und an den alten Eibenschütz, der er einmal gewesen war, und an seine tote Frau; und besonders an Euphemia, ja, besonders an Euphemia dachte er und daran, daß er eigentlich schon ein verlorener Mann war, in dieser verlorenen Gegend.
    »Sie tun nicht immer Ihre Pflicht«, sagte Kapturak sehr leise. Aber in diesem Augenblick hatte der Kasten aufgehört zu brausen, und auch die leisen Worte klangen also sehr laut. »Wie steht es damit, daß Sie einen bestimmten Laden niemals inspizieren? Sie wissen, welchen ich meine!« – Eibenschütz wußte wohl, welchen Laden Kapturak im Sinne hatte, aber er fragte: »Welchen denn?« – »Den Singer«, sagte Kapturak. »Wo ist dieser Singer?« fragte der Gendarm Piotrak. »In Zlotogrod, mitten in Zlotogrod«, erwiderte Kapturak, »gleich neben der Fischerin Chajes, der Sie vor zwei Wochen die Konzession genommen haben!« Der Gendarm warf einen fragenden, mißtrauischen Blick auf Eibenschütz. »Morgen gehen wir nachsehen!« sagte der Eichmeister. Plötzlich empfand er große Angst vor Kapturak sowohl als auch vor dem Gendarmen. Er mußte noch ein Gläschen trinken.
    »Morgen gehen wir nachsehen!« wiederholte er.
    Kapturak lächelte lautlos und breit. Seine dünnen Lippen entblößten im ganzen vier gelbe Zähne, zwei oben, zwei unten, es war, als zerkaute er mit ihnen sein eigenes Lächeln.
    Es war in der Tat so, daß der Eichmeister Eibenschütz noch niemals im Laden Singer nachgesehen hatte. Es war der einzige im Bezirk, ganz gewiß. Und trotz seiner großen Redlichkeit und amtlichen Gewissenhaftigkeit hatte er es doch absichtlich unterlassen, die Singers zu behelligen.
    Es war übrigens ein so armseliger Laden, daß er sich sogar von den sehr armseligen dieser Gegend unterschied. Er hatte nicht einmal ein Schild, sondern eine
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