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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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ins Gebirge verschleppt wurde, was er mit einem stolzen, bitteren Blick erduldete. Oder das Bildnis der halbnackten Frau, die, das lange Haar offen, den Blick schreckensstarr, überlebensgroß auf einem Wagen kauerte, mit dem sie die Landsknechte gleich zum Scheiterhaufen fahren würden.
    Hatten wir uns an einen der dunklen Holztische gesetzt, kam die alte, weißhaarige Frau, die von Tisch zu Tisch ging und uns mit Namen kannte, stellte den Korb mit dem Gebäck, den sie am Rücken trug, vor uns ab und fragte, was wir heute haben wollten, lange Salzstangen, Weckerl mit Kümmel oder eine der riesigen Brezen. Danach bestellten wir unser Himbeer Soda, wir mussten es immer selbst bestellen, weil Vater meinte, wer zu verkorkst sei, dem Kellner zu sagen, was er wolle, der wäre besser zuhause geblieben, um bei der Amme Milch zu trinken, aber wir hatten gar keine Amme, und die Vorstellung, je aus fremden Brüsten getrunken zu haben, war mir unappetitlich. War der Raum ausgespäht und alles bestellt, konnte es losgehen: Wir erzählten, was seit letztem Samstag in der Siedlung oder der Schule vorgefallen war, und Vater erzählte, was sich vor vierzig Jahren, als er dort zur Schule ging, in seiner kleinen Stadt an der Donau zugetragen hatte, und am Ende griff er in die Brusttasche des Sakkos und rief: O Gott, ich habe die Brieftasche verloren, der Wirt wird die Polizei holen, außer er lässt euch in der Küche das Geschirr abwaschen, und das Beste an dem Scherz war, dass er ihn jeden Samstag wiederholte.
    Auf dem Heimweg, wenn wir am Fluss stadtauswärts gingen, rauschten die Gespräche, die wir geführt hatten, in mir nach, und es war, als würden im Schaukeln der Wellen all die Bilder mitschaukeln, die ich im Kino und im Gasthaus gesehen hatte. Da befiel mich ein wehes Gefühl, in dem gleich viel Glück wie Unglück lag. Noch fühlte ich mich erhoben, das Paradies musste so ein Samstagnachmittag sein, aber schon sah ich die lange Woche vor mir, die erst vergehen musste, bis wir wieder, statt auf die Berge, in die Stadt wandern, im Kino sitzen und im Gasthaus unter den Schwaden zahlloser Zigaretten über die Kämpfe in der fernen Stadt Algier, die Winter vor vierzig Jahren an der zugefrorenen Donau, die Vormittage in der Volksschule Mülln reden und Himbeer Soda trinken würden.

MINUTENLANG STANDEN WIR UNS gegenüber, er zitternd in rätselhafter Wut, ich reglos in stummer Angst. Gerne schlug ich, wenn ich morgens zur Schule ging, den von Kirschbäumen gesäumten Pfad ein, der zur vielbefahrenen Durchzugsstraße führte. Und dort, auf dem Kiesweg, der im Herbst von Blättern bedeckt war, wartete eines Tages der Hund auf mich. Er wich nicht zur Seite und griff nicht an, ich wagte nicht zu atmen oder einen Schritt zu tun. Hunde riechen die Angst, hatte Frau Heilgartner, die neue Lehrerin, gesagt und uns so in ihre Schule der Angst genommen. Ich wusste, in welchen Gassen es freilaufende Hunde gab und wo andere in fletschendem Zorn gegen die Gartenzäune sprangen. In meiner inneren Landkarte waren zahllose Stationen der Gefahr markiert, und um zu meinen Zielen zu gelangen, schlug ich lange Umwege ein, wie von selbst, als wäre mir die Route eingezeichnet, die ich nehmen musste, um nicht bei den Hunden, den Trunkenbolden, den Hexen vorbeizukommen.
    Hatte ich die Durchzugsstraße erreicht, an der mein Revier endete, galt es über die Kreuzung zu gelangen, in die vier Straßen mündeten und die doch, so nahe der Schule, von keiner Ampel geregelt war. Einmal, als ich mit Sabine aus der Siedlung kam, stand der Verkehr still, und in der Mitte der Kreuzung lag in einem Kranz aus Scherben ein hellblaues Moped der Marke Puch auf dem Asphalt. An der gegenüberliegenden Seite wurde gerade ein kräftiger Bursche, dessen schwarze Schuhe vorne spitz zuliefen und an den Zehen steil aufgebogen waren, auf einer Trage in den Rettungswagen geschoben, wobei er sich aufsetzte und einen verzagten Blick auf das Moped warf, das er zurücklassen musste. Es war dieser Blick, der in mir das jähe Gefühl von Verlassenheit weckte. Der Verunglückte war zwar einer der Halbstarken, die abends auf dem kleinen Plätzchen vor unserem Haus ihre Mopeds im Stand aufheulen ließen, aber als er jetzt mit Blaulicht abtransportiert wurde, musste er doch schrecklich einsam und schwach sein, und ich fühlte mich, inmitten der Schüler, die nach und nach an der Unfallstelle eingetroffen waren, mit einem Mal so verlassen, wie ich dachte, dass er sich fühlen musste. Wir
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