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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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den Gefahren der Schwarzseherei und lebte in täglicher Erwartung der Katastrophe.

ABENDS ZWISCHEN ACHT UND NEUN verwandelte sich das Telefon in einen Boten des Unheils. Der schwarze Apparat stand im Vorzimmer nahe der Eingangstür auf einem kleinen, in die Wand geschraubten Brett, hatte einen Hörer, der auf einer geschwungenen Gabel auflag, eine Wählscheibe, auf der von oben rechts gegen den Uhrzeigersinn bis unten die Zahlen von 1 bis 9 weiß im Halbkreis standen, und einen Knopf am Gehäuse. Der Bruder behauptete, er könne die Nummern, die gewählt wurden, daran erkennen, wie lange es dauerte, bis die Wählscheibe wieder in ihre Ausgangsposition zurückgesirrt war. Tagsüber läutete das Telefon fröhlich, die ältere Schwester eilte, als Erste beim Apparat zu sein, um Gespräche mit rätselhaften Unbekannten zu führen, kichernd und verschwörerisch, dass nicht zu erraten war, mit wem sie sich worüber unterhielt und welche Verabredung sie traf.
    Die jüngere Schwester, schön und scheu, unzufrieden mit sich und überworfen mit der Welt, wurde fast nie angerufen, sie saß brütend in ihrer Verzweiflung, und die Mutter warf ihr den berüchtigten Aufmunterungsblick zu. Manchmal war aber auch sie es, die zum Telefon ging und einem Anrufer mitteilte, dass der Vater leider nicht zuhause sei, der Vater, der beim ersten Klingelton erschrocken ausgerufen hatte, er wäre nicht da und daher für niemanden, absolut niemanden zu sprechen. Wie wir in das philosophische Problem eingeführt wurden, dass jemand, der anwesend war, zugleich abwesend sein konnte, so war uns auch die Relativität des Absoluten von früh auf geläufig, und ich glaube, ich wusste schon mit sechs, ob der, der sich meldete, wenn ich den Hörer abhob, wirklich ein Niemand war, oder mein Vater, der eigentlich nicht da war, doch mit ihm sprechen wollte.
    Manchmal ging der Vater auch ins Vorzimmer mit, dann musste ich, sofern dieser sich dem Kind vorgestellt hatte, laut den Namen des Anrufers wiederholen und dabei zum Vater blicken, der jetzt entweder näher trat, um mir rasch den Hörer abzunehmen, oder mit beiden Armen zu fuchteln begann, was bedeutete, dass er gerade unter keinen Umständen zuhause war. Ich liebte dieses Spiel, obwohl mir seine moralische Fragwürdigkeit nicht verborgen blieb, ich liebte es, weil es eine Vertrautheit schuf, die auf einer Lüge gründete und Vater und Sohn zu Kumpanen bei etwas sittlich Bedenklichem machte, und ich liebte es, weil es mir eine Geistesgegenwärtigkeit abverlangte, für die ich viel Lob erhielt. Auf wenig war ich so versessen wie auf dieses Lob, das mir flinken Verstand und Schlagfertigkeit bescheinigte, wie ich mir umgekehrt noch heute schwertue, gedanklich langsamen, sprachlich ungelenken Menschen gerecht zu werden, neige ich doch dazu, sie als geistig unregsam zu unterschätzen, und dabei hatten sie vielleicht nur keinen Vater, von dem sie im Bruchteil einer Sekunde zu entscheiden hatten, ob er da war oder nicht. Als ich Vater fragte, warum er für den Kommerzialrat Helminger und den Professor Mattes nicht zuhause war, klärte er mich auf, dass Helminger eine Krämerseele und Mattes ein
Nebochant
sei, die Krämerseelen waren so blöd, nur ans Geldverdienen zu denken, und die Nebochanten waren selbst dafür zu blöde.
    Wir teilten den Telefonanschluss mit drei anderen Familien im Haus. Immer nur eine konnte telefonieren, und sobald eine neue Verbindung aufgebaut wurde, knackste es in einem an der Wand befestigten kleinen Kästchen, es knackste, und wenige Sekunden später hörten wir es entweder bei den Nachbarn klingeln oder bei uns. Unter der Wählscheibe hatte das Telefon einen weißen Knopf, auf den man drücken musste, damit die Verbindung zum Amt hergestellt war und gewählt werden konnte. Der Knopf ließ, wenn der Vorgang gelang, ein Ticken hören, telefonierte aber gerade einer der drei Nachbarn, blieb er stumm und gab die Leitung nicht frei. Natürlich blockierten die Nachbarn stundenlang die Leitung, kaum dass auch wir einmal ein wichtiges Gespräch führen mussten, sodass ich Telefondienst versehen durfte und alle zwanzig, dreißig Sekunden den Knopf drückte, um zu prüfen, ob die Nachbarn so rücksichtslos waren, die Leitung noch immer nicht freizugeben.
    Abends wurde das Telefon unheimlich, Mutter horchte, ob es nicht womöglich knackste, sie horchte, damit sie das Klingeln, das auf das Knacksen folgte, nicht so erschrecken möge. Rief jemand bald nach acht Uhr an, war sie nur verärgert
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