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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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Backen und einem schief in seinem Gesicht gefrorenen Grinsen, hatte das Kommando übernommen. Am ersten Tag wurden die Grundmauern eines im Durchmesser vielleicht zwei Meter großen Iglus errichtet, am Nachmittag des nächsten war die Schneeburg schon so hoch, dass ich von Bruno dazu bestimmt wurde, im Inneren des Baus die Kanten der neu aufgelegten Ziegel mit meinen klammen Fingern zu bestreichen, damit sie sich fugenlos fest mit den vorher aufgelegten verbinden konnten.
    Ich hatte das Verhängnis nicht kommen sehen, aber auf einmal war das gerundete Dach über mir fast geschlossen, nur ein schmaler Schlitz war noch frei, durch den ich in den grauen Himmel blickte. Ich begriff, dass ich mitgeholfen hatte, mich in einem Gefängnis aus steinharten Eisziegeln einzumauern. Da schlug ich gegen die Wände, die nicht wankten, nicht einmal krachten, ich stemmte die Arme gegen das Dach, das nicht nachgab, wir waren allein, mein Tod und ich. Ich rammte den Kopf gegen die Mauern, dass das Blut aus der Nase spritzte, das an der weißen Mauer sofort gefror und die Nasenlöcher mit Eispfropfen verschloss. Die Wände sind weiß und rücken näher, das Herz hämmert, der Himmel ist leer und still, irgendwann spricht aus ihm eine Stimme, sie gehört Herrn Sagmeister, dem Vater von Bruno, der mir befiehlt, mich in das hintere Eck des Iglus zu stellen, und dann kracht es über mir, Spaten schlagen auf das Dach, bis ich viele Hände in grünen und roten Wollfäustlingen sehe, die über den Schlitz ins Innere des Iglus greifen und Stück um Stück aus dem Dach reißen. Dann werde ich von Herrn Sagmeister herausgehoben, die Kameraden stehen in betreten grinsender Runde und hinter ihnen, sie überragend, der Baumeister und Richter, Bruno, der das Gefängnis aus Eis geplant und den Tod über mich verhängt hat.
    Kaum war ich befreit, verflog die Todesangst, ihre Stelle war nun leer, sie musste mit etwas gefüllt werden. Ich füllte sie mit einer anderen Angst, mit der Angst, dass den Freunden meine Panik nicht entgangen war, und diese Angst, Angst zu zeigen, wird mich künftig den Ball bloßfüßig aus dem Meer von Brennnesseln holen, steile Wege mit dem Roller hinuntersausen, auf dünnem Balken über den Bach balancieren lassen und mich zu den aberwitzigsten Verrenkungen nötigen.
    Ich sah Bruno, rotbackig, wie entrückt in seiner fremden Erregung, und was in mich einschoss, war eine eisige Welle des Hasses, eine kalte Leidenschaft, die mich nach Rache verlangen ließ und von der ich sogleich wusste, dass ich erst Ruhe von ihr finden würde, wenn der Feind geschlagen und seine Niederlage eine vollständige sein wird. Im Sommer darauf wurde Bruno, mit seinem Rennrad unterwegs zu einem dreißig Kilometer entfernten See, von einem Lieferwagen erfasst und gegen das Häuschen einer Haltestelle des Postbusses geschleudert. Ich sah ihn vor mir, wie er in einem weißen, kalten, gekachelten Zimmer des Krankenhauses um sein Leben kämpfte, bis am sechsten Tag sein Gesicht totenblass wurde und die Pausbacken einsackten. Beständig sprach ich mit ihm, der in tiefer Bewusstlosigkeit lag, und mit mir, der ich schon den Triumph und die Schuld des Überlebenden verspürte, während er noch gar nicht gestorben war: Hättest du mich nicht eingesperrt, hättest du mich nicht lächerlich gemacht! Groß war das Erschrecken über meine Allmacht.

SAMSTAGNACHMITTAGS spazierten wir in die Stadt, damit Vater im Nonstop-Kino schlafen konnte. Es war ausgemacht, dass der Bruder und ich ihn weckten, wenn das Programm, das mit seinen Tierfilmen, Weltnachrichten, Sportberichten und der Zeichentrick-Serie eine Stunde dauerte, wieder von vorne anfing, oder wenn er zu schnarchen begann. Wir lauerten, bis er leise röchelte, und stupsten ihn dann, worauf er schnaubend aufschreckte, einen kurzen Blick auf die Leinwand warf und weiterschlief, sodass wir die Berichte vom Aufstand in Algerien, Krieg in Indochina, Militärputsch in Panama zwei Mal anschauen konnten.
    Nach dem Kino, in dem wir erfuhren, dass ständig irgendwo Krieg geführt wurde, gingen wir immer in das nahe gelegene Gasthaus Sternbräu und betrachteten das malträtierte Fleisch. Ich saß hungrig im größten Saal des Gasthauses und konnte die Augen nicht von den riesigen Bildern wenden, die dort hingen. Besonders hatte es mir das Gemälde angetan, auf dem Erzbischof Wolfdietrich von Raitenau, von den Söldnern seines wortbrüchigen Neffen Markus Sittikus in Ketten gelegt, durch eine unwegsame Winterlandschaft
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