Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
Vom Netzwerk:
Frau Eder vorbeiging, die alle Kinder im Haus fürchteten. Wir waren ärmer als unsere Nachbarn, aber die Eltern hatten verboten, dass wir uns von der Frau Eder
schurigeln
lassen. Und unsere Familie war auch ärmer als die Familien aller Mitarbeiter meines Vaters, weil er in der
Beratungsstelle der Vertriebenen
ihr Chef war und sich deswegen mehr Sorgen um die Menschheit als um die eigene Familie machen musste.
    Der Vater wurde nie laut, aber ein großer Zorn schlief in ihm, und ausgerechnet um zehn Uhr in dieser Nacht, als die anderen schlafen gingen, war er erwacht. Es war ein schrecklicher und ausgelassener Zorn, und indem er die Bücher aus dem Fenster segeln ließ, zeigte der Vater denen, die sie unten aufzufangen versuchten, wie sehr er sie verachtete. Die Mutter sagte es den beiden Schwestern, die im Nachthemd herbeigeeilt waren und erst verschreckt, dann belustigt in der Ecke standen, die sagten es dem Bruder, der es mir erklärte: Die zwei greinenden Männer im Garten waren
Krämerseelen
, die vom Vater die Bücher, die er persönlich zugeschickt bekommen, studiert und in seiner Zeitung beurteilt hatte, für das Archiv verlangten, das er selbst gegründet hatte; mit solchen Krämerseelen bekamen wir es oft zu tun, das waren dumme Leute, die von nichts eine Ahnung hatten außer vom
Erbsenzählen
.

DUNKEL KLANG die Stimme der Mutter, belegt, von Abertausenden Zigaretten gedämpft die des Vaters, aber beide sprachen sie einen Dialekt, von dem ich erst später, als ich in die Schule kam, bemerkte, dass er sich fremd gegen die Sprache der Stadt ausnahm. Die Eltern sagten Guchen und Gäggsä, wenn sie Kuchen und Kekse meinten, sie sagten Dirol und Dürgei, Babsd und Bedersblads, das O und das A setzten sie tief hinten in der Kehle an, dafür ließen sie das R bis vorne an die Zähne rollen. In der Siedlung, in der wir wohnten, war mir das nicht aufgefallen, denn hier lebten mehr Leute, die aus Südtirol, Schlesien oder dem Sudetenland stammten, als solche, deren Familien schon zwei, drei Generationen in Österreich oder gar in Salzburg ansässig waren. Und zuhause gingen ohnedies Menschen aus vielen Ländern ein und aus, auf dem Türschild stand jahrelang nicht nur unser Name, sondern auch
Beratungsstelle für Volksdeutsche
. Darum kannte ich die rauhen, brüchigen, unsicheren, dröhnenden, erbosten, bettelnden Stimmen von Leuten, die sich als Dobrudscha-, Karpaten- oder Bessarabiadeutsche, als Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben bezeichneten und alle ihre eigene Sprache hatten. Manche bevorzugten Zwielaute wie das lang gedehnte Ä, was einen Misston erzeugte, der nicht unsympathisch war, bei anderen waren es die Zischlaute, die ihre Rede flüssig machten und dieser etwas Vertrauliches gaben.
    Ich sitze unter dem Tisch und höre, wie sie sprechen, die namen- und gesichtslosen Männer, von denen ich nur die dunklen Hosen, ihr verbogenes, fest geschnürtes Schuhwerk, die kratzigen Socken und manchmal ein Stück ihrer knochigen weißen Beine sehe. Oder ich liege in meinem Zimmer auf dem Bett und der Singsang ihrer Reden geleitet mich in den Schlaf, ich schaukle in ihren Sätzen, in denen es fast immer um einen Ort geht, den sie verloren haben, oder einen Ort, den sie für sich zu gewinnen versuchen, um die sagenhaften Städte, die sie verlassen mussten, oder die sagenhaften Städte, in die sie übersiedeln wollen, um Werschetz, Eger, Freudenthal oder um Toronto, Philadelphia, Buenos Aires.
    Der Einzige, dessen Schuhe nicht hart, verbogen und fest geschnürt waren, sondern schmal und weich, war ein älterer Mann, dessen Gesicht ich kannte, weil wir ihn manchmal trafen, wenn wir Kinder mit den Eltern in die Stadt gingen. Er war zierlich, tänzelte mehr, als dass er schritt, hatte weißes seidiges Haar, trug einen hellen Anzug mit dünnen, fast schon durchsichtigen Stellen und küsste, wenn sie dabei war, der Mutter die Hand. Er sprach Deutsch, aber mit einer possierlichen Färbung. Dort, wo er herkam, war er Musikprofessor an der Akademie gewesen, sagte der Vater, was für ein feiner Mann, sagte die Mutter, er hieß Béla Miller und war der erste Ungar meines Lebens.

ES GAB ABENDE , da zog Vater die glänzend polierten schwarzen Schuhe und das Sakko an, ohne die Wohnung zu verlassen. Das bedeutete, dass wir Besuch erwarteten, und den empfing man nicht in Pantoffeln. Mutter hatte den Nachmittag in der Küche verbracht und jeden, der hineinwollte, verscheucht, dann zog sie sich zurück und erschien zwanzig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher