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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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immer weiter entfernt, steht die Mutter an der Tür und sieht sorgenvoll seiner Ausgelassenheit hinterher. Es war wie in dem Lied von Hänschen klein, das sich in die weite Welt begibt, mit Stock und Hut und wohlgemut: »Doch die Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr.« Das gefiel mir, auch wenn ich es manchmal traurig fand, dass die Mutter allein blieb, aber wenn meine ungerecht zu mir gewesen war, hatte ich mit denen von Fritz und Hänschen kein Mitleid, es geschah ihnen recht, dass sie sich Sorgen machen mussten und ihren Kindern Böses widerfuhr. Um mich für erlittene Kränkung zu rächen, malte ich mir oft aus, die Eltern, Geschwister, Freunde mit dem Schlimmsten zu bestrafen, meinem Tod. Meine Rache im Buch war ein grimmiger Hexerich, »Hatschi Bratschi heißt er, und kleine Kinder fängt und beißt er«.
    Die Welt war groß und die Reise im Luftballon abenteuerlich, Fritz, den der Zauberer raubte und der diesen aus dem Korb stieß, fährt mit mir über Äcker, Almen und Dörfer, wir sehen fremde Länder, in denen Melonen, Orangen, Feigen wachsen, und das Meer mit seinen Wellen und Wogen und sogar die Wüste, durch die die Karawanen ziehen. Süß ist der Schauer, betrauert zu werden von denen, die wir zurückgelassen haben, und triumphal wird es sein, heimzukehren mit all den von uns befreiten Kindern.
    Unzählige Male bin ich die grüne Insel in meinem Zimmer angeschwommen, ich fand dort zuverlässig die Verse und Bilder wieder, die schön und erschreckend waren. »Hatschi Bratschis Luftballon« lehrte mich die Sehnsucht nach der Fremde um den Preis der Angst vor dem Fremden.

ICH WAR DER EINZIGE GEBÜRTIGE ÖSTERREICHER der Familie. Die Eltern und Geschwister hatten jahrelang als
Staatenlose
in einer Barackensiedlung für
Heimatvertriebene
am Stadtrand gelebt. Die Staatsbürgerschaft erhielten sie erst, kurz bevor ich zu ihnen stieß, und dann übersiedelten wir auch gleich in das neu errichtete Haus in einem anderen, stadtnahen Viertel. Das Haus hatte sechs Stockwerke, in jedem gab es drei Wohnungen, zwei große für die jungen Familien, zwischen denen eine kleinere lag, die für alleinstehende, meist ältere Herrschaften gedacht war. Die achtzehn Parteien bildeten die
Hausgemeinschaft
, die in rasch und rätselhaft wechselnde Gruppen zerfiel, die einander in Misstrauen zugetan blieben und immer neue politische Allianzen schlossen.
    Auf keine von ihnen war Verlass, auch nicht auf die beiden ältesten, die von den Familien mit Kindern und den Haushalten ohne Nachwuchs gebildet wurden. Denn es gab Familien, in denen die Kinder einem strengen Regiment unterworfen und angehalten waren, sich allezeit leise und brav zu verhalten; und Junggesellen wie den Ingenieur Portschy, dem eine fleischige, wunde Nase aus dem schuppig geröteten Gesicht ragte, der unsere Spiele, wenn sie nur wild und laut waren, vom Fenster im dritten Stock aus mit anerkennenden Rufen anzufeuern pflegte. Und die winzige Frau Bacher, die die rabenschwarz gefärbten Haare zu einem Turm gesteckt hatte und, weithin sichtbar, beim Fensterputzen im obersten Stock auf dem Fensterbrett herumturnte. Vom grauhaarigen Mann, der bei ihr lebte, glaubte ich, er sei mit ihr verheiratet, erst als ich erfuhr, dass er ihr Sohn war, fiel mir auf, wie alt sie in Wahrheit schon war. In den beiden hatten die schlimmen Kinder des Hauses ihre wichtigste Stütze, auch mich haben sie, die schwarzhaarige Mutter und ihr grauhaariger Sohn, häufig nach den neuesten Streichen ausgefragt, von denen ich ihnen, begeistert von den Missetaten, die ich nicht verübt hatte, gerne berichtete.
    Nach einer anderen Einteilung der Hausbewohner standen den
Zuzüglern
die gebürtigen Salzburger gegenüber. Der verkommene Hagestolz Portschy und der elegante Herr Dobrovolny stammten aus Wien, der Diplomingenieur Schlonsak, ein zierlicher Mann, der sich mit seiner Frau einmal die Woche in Abendkleidung ins Theater oder zum Konzert aufmachte, war aus dem
Sudetenland
vertrieben worden, und die Frau Bichler mit ihren wohlerzogenen Töchtern hatte früher in
Ostpreußen
gelebt. Gegenüber den Neubürgern waren jene, die wie die Eltern Sabines schon immer in unserer Stadt gelebt hatten, in der Minderzahl. Aber auch die ethnische Zuordnung sagte über unser Gemeinwesen nicht viel aus, gab es doch Mischehen zwischen Zuzüglern und Einheimischen und Feindschafen unter den einen wie den anderen.
    Die Koalitionen im Haus brachen periodisch auseinander, Kartenpartien, die sich samstags
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