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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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die die Grenze von Gehsteig und Vorgarten markierten. Den Roller mit der verbogenen Lenkstange neben mir herschiebend, stapfte ich nachhause, es hätte mich nicht gestört, jetzt von vielen gesehen zu werden, die Ehre heftig blutender Verletzungen wog schwerer als die Schande des Ungeschicks. In der Gegend wohnten einige Männer, die nur ein Bein hatten und sich auf Krücken oder mit Stöcken fortbewegten, das waren die
Kriegsinvaliden
, die es zu achten galt, die anderen Männer waren
Kriegsteilnehmer
, die nur den Respekt verdienten, der jedem Erwachsenen gebührte.
    Mutter kramte, nachdem sie meine Wunden begutachtet hatte, aus der Schuhschachtel mit den Arzneien einen kleinen gelben Zylinder aus Plastik hervor, in dem sich weißer Puder befand. Sie klopfte ihn aus den sternförmig gestanzten Löchern im Deckel und ließ es dick auf die Wunden rieseln, was einen brennenden Schmerz hervorrief, aber das Bluten rasch unterband und die Wunden mit einer verklumpenden Schicht aus weißem Puder und gestocktem Blut verschloss. Die Kruste, die sich bildete, war die große Versuchung der nächsten Tage, oft auch Wochen, denn nach einiger Zeit schmerzte die verletzte Stelle nicht mehr, aber sie juckte, bis es unmöglich war, nicht an dem verschorfenden Bug zu rühren. Nach ein paar Tagen musste man einfach kletzeln und fitzeln, mit den Fingern zuerst vorsichtig einige der leicht aufgebogenen und abstehenden Teile der Kruste abziehen und endlich ein krätziges Stück davon abtragen, wobei das noch nicht völlig wiederhergestellte Gewebe darunter neuerlich zu bluten begann. Hatte ich endlich die nur halb verheilte Wunde freigelegt, packte mich die Angst, schon bald den dünnen roten Strich entdecken zu müssen, der von der Wunde herzwärts führt und die Tod verheißende Blutvergiftung anzeigt, welche unausweichlich die befiel, die der Lockung nicht widerstanden und sich den schützenden Schorf von der Wunde gerissen hatten.

DER GROSSGLOCKNER war der höchste Berg in Österreich, aber der wichtigste Berg der Welt hieß Popocatépetl. Vom Bruder erfuhr ich, dass er in Mexiko stand und oben ein Loch hatte, aus dem es manchmal rauchte. Ich stellte mir vor, wie ich auf den Popocatépetl stieg und mich, oben angekommen, auf den Boden legte, um vorsichtig wie über den Rand eines riesigen Topfes zu lugen, in dessen Tiefe es brodelte und grollte. Und dann packt mich jemand, den ich nicht kommen gehört hatte, an den Knöcheln und schiebt mich langsam über den Rand, schon beginne ich in den Schlund zu rutschen, als ich endlich einen Ton herausbringe und um Hilfe schreie; aus dem Abgrund hallt es so schauerlich wider, dass die jüngere der beiden Schwestern ins Zimmer stürmt, sie wirft mir einen erschrockenen Blick zu, tippt sich dann an die Stirn, und ich wende mich ab, damit sie nicht sehen kann, wie ich mich schäme.
    Die hohen Berge, auf die wir vom Fenster des Wohnzimmers blickten, hießen Untersberg und Hoher Staufen, das Bubenzimmer und die Küche lagen zum Gaisberg hin. Der Untersberg war steil und schroff, eine gewaltige Wand, hinter der die Zwerge, Riesen und Fürsten den Kaiser Karl bewachten, der vor langer Zeit eingeschlafen war und nur alle hundert Jahre erwachte. Dann hob er das Haupt, strich sich durch den wieder länger gewordenen Bart und fragte die Getreuen, ob noch immer die Raben um den Untersberg flogen, und sie erwiderten traurig, dass es so war, worauf der Kaiser Karl sein Haupt neuerlich auf den Tisch bettete und einschlief, wieder für hundert Jahre. Eines Tages aber, hatte Diethard, sein Klassenkamerad, dem Bruder erzählt, würden die Raben nicht mehr fliegen und der Kaiser Karl sich aus dem Schlaf erheben und den Berg verlassen, mit allen seinen Recken und mit den Zwergen und den Riesen, und dann würde auch Deutschland wieder erwachen.
    Der Staufen weiter rechts war hellblau und fast symmetrisch, er hatte zwei niedere äußere und einen hohen mittleren Zacken. Der Gaisberg hingegen wirkte aus der Ferne weich und rund, in seinen fast flachen Scheitel war eine spitze Stange gesteckt, der Sendemasten, ohne den der Radioapparat im Wohnzimmer nur ein stummer, dunkler Kasten wäre. Die jüngere Schwester, die sich nur selten aus ihren düsteren Betrachtungen reißen ließ, aber eine merkwürdige Passion für Auto- und Motorradrennen hegte, ging jedes Jahr auf den Gaisberg, um sich das Rennen anzusehen, bei dem berühmte Piloten die Bergstraße hinaufrasten und gegen einen Baum oder ein Stück Felsen
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