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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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Minuten später wie unter einem Strahlenkranz im rot-schwarzen Kleid, von dem alle sagten, dass es ihr so gut stand, und mit der Kette um den Hals, an der lauter Korallen hingen. In der Küche köchelte im großen Topf die serbische Bohnensuppe, so scharf gewürzt, dass man beim ersten Löffel nie wusste, ob sie nicht zu heiß war, und die mit jedem weiteren besser wurde. Oder es dampften im durchsichtigen Jenaer-Glas dicht aneinandergelegt die gelbgrünen Sarmastücke, die Krautrouladen, die mit Faschiertem gefüllt waren und mit Sauerrahm serviert wurden.
    Vater ging gereizt in der Wohnung herum, die Zigarette in der linken Hand zwischen zwei von Granatsplittern blau gesprenkelte, verkrümmte Finger geklemmt. Vom gedeckten Tisch im Wohnzimmer nahm er die durchsichtige Flasche, die ein scharfes Getränk enthielt, das Puschkin hieß und in kleine Gläser über eine hellrote Kirsche geleert wurde. Er goss einen ordentlichen Schluck in das Glas und kippte es auf einmal hinunter, dann verzog er das Gesicht und strich sich unter den Rippen über den Bauch. Auf seinem Nachtkästchen standen immer eine Büchse und eine Schachtel mit Tabletten, Rotter hießen die einen, die das Wasser rot färbten, wenn sie sich darin auflösten, Rennie die anderen, die gelutscht werden mussten. Er stand im Wohnzimmer, rieb sich den Bauch und fluchte leise über die Besucher, die natürlich wieder zu spät kamen.
    Die Schwestern, die schon groß waren, zweigten ihr Nachtmahl von den vorbereiteten Speisen ab, ehe die Gäste eintrafen, und verzogen sich bald nach der Begrüßung in ihr Zimmer. Der Bruder, drei Jahre älter als ich, blieb eine Zeitlang und ließ sich, für sein Wissen berühmt, von den Besuchern examinieren; folgsam sagte er die höchsten Berge und längsten Flüsse der Erde auf, dann wurde es ihm langweilig, und er verabschiedete sich mit artiger Verbeugung. Ich aber genieße es, umfangen von all den Stimmen, langsam müde zu werden und in eine Art von Vorschlaf zu sinken, in dem ich den Stimmen lausche, die wogend den Raum erfüllen; ich lehne irgendwo abseits oder sitze auf dem Schoß der Mutter, den Kopf auf ihre Schulter gelegt, und versuche den Augenblick, in dem sie aufstehen und mich in das Kinderzimmer tragen wird, so lang wie möglich hinauszuzögern, indem ich mich still und reglos halte.
    Wenn es doch geschehen war, wartete ich im Bett den Moment ab, an dem das Gespräch im Wohnzimmer laut wurde oder Gelächter herüberklang, lief zur Tür und öffnete sie leise einen Spalt, sodass ich einschlafend weiterhören konnte: den komödiantischen Singsang des Herrn Stützenbach, dessen dünner Oberlippenbart scharf geschnitten war und der manchmal ein kleines Notizbuch aus braunem, abgegriffenem Leder aus der Westentasche zog, um nebenbei darin zu blättern und dann einen der Witze zu erzählen, von denen er ein paar hundert in seinem Repertoire hatte; oder den Rechtsanwalt Sitzwohl, der mir immer, wenn sein Blick den meinen traf, mit dem linken Auge verschwörerisch zuzwinkerte und nicht oft, aber dann stets lange sprach und kaum je unterbrochen wurde; oder die Frau Reitter, eine alte Dame mit tiefer Stimme, die auf dem weißen Haar einen schwarzen, schräg aufgesetzten Hut trug, und von der es hieß, sie sei, ehe sie
vertrieben
wurde, die erste mondäne Frau der
Batschka
gewesen, weil sie Zigaretten rauchte, nie geheiratet hatte und schon vor dem Krieg allein nach Ägypten gereist war.
    Die Stimmen schwellen an und ab, es ist ein stundenlanges Rollen und Branden, das sich zu stürmischem Brausen und wütendem Poltern steigert, wenn die Männer zu streiten beginnen und die Frauen sie nur für kurz zu beschwichtigen vermögen, denn einmal in Rage geraten, fangen sie bald wieder zu schreien an – Verräter, Nazi, Kommunist. Es kam öfter vor, dass jemand Vater einen Kommunisten nannte, einmal hat er sogar einen Prozess geführt, weil er von einer Krämerseele in einer Vertriebenenzeitung so bezeichnet wurde, dabei hielt er den Kommunismus für keine gute Sache, nur für eine gerechte Strafe, die gerechte Strafe für all die geldgierigen, verlogenen Dummköpfe, die sich noch dazu als fromme Christenmenschen aufspielten.

IM GARTEN LIEFEN viele Kinder durcheinander, eines folgte mir und beschloss, für mich zu sorgen. Sabine war zwei Jahre älter als ich und einen Kopf größer, und wenn meine Schuhbänder offen waren, kniete sie nieder und band sie mir, was mir angenehm war, und wenn ich beim Laufen stürzte, half sie mir
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