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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah
Autoren: Karl-Markus Gauß
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dünnen Holzstab, von dem wir bisher nur erfahren hatten, dass man mit ihm auf Wörter und Zahlen auf der Tafel zeigen konnte, feste auf ausgestreckte Hände niedersausen ließ. Da haben viele geweint. Die Frau Lehrer Wolferseder, erfuhren wir, ohne dass uns Genaues gesagt wurde, war in den Ferien gestorben, aber erst jetzt, da ich älter bin, als sie wurde, und mir schaudernd bewusst ist, wie nahe am Krieg ich aufgewachsen bin, frage ich mich, was mit ihr war, meiner ersten Lehrerin, die die Weinenden tröstete und selber so oft weinte.

DIE WELT BESTAND aus Büchern und richtigen Büchern. Ich lernte erst lesen, da wusste ich bereits, dass es eine Hierarchie der schriftlichen Werke zu beachten galt. Bücher waren etwas für gewöhnliche Leute, die lasen, um sich zu zerstreuen oder die Zeit zu vertreiben, und daran war nichts Schlechtes. Die richtigen Bücher aber wurden nicht gelesen, damit man der Langeweile entrinne oder Trost im Unglück finde, sondern um sich einer edlen Anstrengung zu unterziehen und unerschrocken dem menschlichen Schicksal zu stellen. Die Leser der richtigen Bücher bildeten ein unsichtbares Volk inmitten der Menschen, es gab sie unerkannt überall, verstreut, in jedem Haus und jeder Straße lebten sie, aber man kannte sie nicht und ahnte nur, wer von den Männern und Frauen, die einem alle Tage begegneten, demselben Volk zugehörte. Bei uns lasen alle, und es wurden von ihnen sowohl Bücher als auch die richtigen Bücher gelesen. Ich wusste, dass die roten, schmalen Bände, die die Schwestern verschlangen und die von den Abenteuern eines Inspektors namens Ironside handelten, nicht zu den richtigen Büchern gehörten und es mir daher erlaubt war, sie bei deren Lektüre zu stören. Hatten sie sich jedoch mit einem Schmöker in ein Eck der Wohnung verzogen, von dem es raunend hieß, es handle sich um einen russischen Roman, durfte ich sie nicht belästigen, denn jetzt waren sie mit einer ernsten Sache beschäftigt, der sie ihre ganze Aufmerksamkeit zuwenden mussten.
    Die Bücher wurden in der Stadtbücherei ausgeliehen, gelesen und bald wieder dorthin zurückgebracht, sodass wir sie nur ein paar Tage oder Wochen in der Wohnung hatten; die richtigen Bücher aber standen im Buchregal und gehörten dauerhaft zu uns, und von manchem hatte Vater mir und dem Bruder bereits grimmige Anekdoten erzählt, lange bevor wir sie selbst hätten lesen können. Nach dem Abendessen, wenn Mutter, die diese Geschichten für schädlich hielt, die Küche aufräumte und den Tisch für das Frühstück bereitete, verlangten wir von ihm, dass er uns wieder eine erzähle. Wir machten es uns auf dem Fauteuil bequem – und schon bekamen wir von Dichtern und Denkern zu hören, die allesamt wahnsinnig, einsam, der Trunksucht oder dem Roulettspiel verfallen waren und von ihren Zeitgenossen rundum missachtet, wenn nicht verhöhnt wurden. Was wir vom Leben bedeutender Geister erfuhren, war immer tragisch und erhebend zugleich, nichts Großes schien je in die Welt gekommen zu sein, das nicht aus dem Unglück erstanden wäre, die Verzweiflung aber trug den Keim des Geglückten und Schönen in sich. Darum stand das Unglück bei uns in so hohem Ansehen, es war ein Kennzeichen oberflächlicher Menschen, dass sie zufrieden waren mit sich und der Welt. Über niemanden machte Vater so verächtliche Bemerkungen wie über die erfolgreichen Leute, die so beschränkt waren, nach nichtigen Dingen zu streben, sich mit Geld und Ansehen zufriedenzugeben, und bei denen es auch nichts mehr nützte, wenn ihnen der Zufall ein richtiges Buch in die Hand legte.
    Wir mochten Vaters Geschichten, und Mutter ängstigte es, dass wir sie mochten. Sie räumte das Feld, wenn er zu erzählen begann, und unterzog uns danach einem gründlichen Exerzitium der Zuversicht. Beschwörend instruierte sie uns, dass es unsere Pflicht sei, das schöne Leben auch schön zu finden. Vater erzählte uns unentwegt düstere Geschichten, sie war unentwegt besorgt, uns die düsteren Gedanken, von denen sie fürchtete, dass sie von uns Besitz ergriffen hatten, wieder zu verscheuchen. Merkwürdigerweise war Vater mit seiner schwarzen Sicht auf die Welt ein genießerischer, manchmal geradezu ausgelassener Mensch, während Mutter mit ihrem Hang, die Dinge für uns schönzureden, oft traurig war und ihr Bemühen, uns vor der Verzweiflung zu bewahren, geradezu verzweifelt wirkte. Er behauptete, die Welt sei schlecht, und ließ es sich darüber nicht verdrießen, sie warnte uns vor
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