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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Autoren: Tiziano Terzani
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materiellen, nachzugehen, denen aus dem Supermarkt. Das Verlangen nach diesen Dingen ist nutzlos, banal, lächerlich.
    Das wahre Verlangen, wenn man denn eines will, ist das Verlangen, man selbst zu sein. Das Einzige, was zu ersehnen Sinn hat, ist, vor keinen Entscheidungen mehr zu stehen, denn die wahre Entscheidung ist nicht die zwischen zwei Sorten Zahnpasta, zwei Frauen oder zwei Autos. Die wahre Entscheidung ist die, du selbst zu sein. Wenn du dich an den Gedanken gewöhnst oder bestimmte Übungen in der Richtung machst, wenn du darüber nachdenkst - nachdenkst! -, dann wirst du erkennen, dass jedes Verlangen eine Form von Sklaverei ist. Denn je heftiger du verlangst, desto mehr begrenzt du dich. Bis dein Verlangen so stark ist, dass du nichts anderes mehr denken und tun kannst, dass du zu seinem Sklaven wirst.
    Wenn du dann älter wirst, und reifer, beginnst du das alles möglicherweise zu sehen …
    Er lacht.
    … und kannst über all dieses Verlangen lachen, das jetzige und das von früher; kannst darüber lachen, dass es zu nichts nütze ist, dass es genauso vergänglich ist wie alles andere, wie das ganze Leben. Und so lernst du allmählich, dich davon zu befreien, es aus dem Weg zu räumen. Auch den letzten Wunsch, den alle haben, den Wunsch nach einem langen Leben. Wenn man denkt, „Gut, mir liegt nichts mehr an Geld und Ruhm, und kaufen will ich auch nichts mehr. Aber was gäbe ich nicht für ein Mittel, das mir noch zehn Jahre schenkt!“
    Auch diesen Wunsch habe ich nicht mehr. Ich habe ihn einfach nicht mehr.
    Ich kann mich glücklich schätzen. Denn die Jahre der Einsamkeit in der Hütte im Himalaja haben mir gezeigt, dass es für mich nichts mehr zu wünschen gab. Dort brauchte ich nichts als ein wenig Wasser zum Trinken, und das gab es an der Quelle, wo auch die Tiere hinkamen. Zum Essen hatte ich ein bisschen Reis mit Gemüse, den ich mir über dem Feuer kochen konnte. Was hätte ich mir denn wünschen können? Doch nicht, mir im Kino den neuesten Film anzusehen! Was hätte ich denn davon?! Was würde das an meinem Leben ändern? Nichts mehr, nichts! Denn was mir jetzt bevorsteht, ist vielleicht die seltsamste, interessanteste, neueste Sache, die mir je widerfahren ist.
    Das ist der Grund, weshalb ich keine Lust mehr habe, in diesem Leben zu verweilen. Weil dieses Leben meine Neugier nicht mehr weckt. Ich habe es von innen und von außen gesehen, von allen Seiten, und die Wünsche, die es in mir wecken könnte, interessieren mich nicht mehr. Der Tod ist wirklich …
    Er lacht.
    … das einzig Neue , was mir noch passieren kann, denn er ist etwas, was ich noch nie gesehen, noch nie erlebt habe. Nur bei den anderen.
    Vielleicht ist es gar nichts, vielleicht ist es nur, wie abends einzuschlafen. Denn im Grunde sterben wir ja jeden Abend. Das Bewusstsein des wachen Menschen, das ihn dazu bringt, sich mit seinem Körper und seinem Namen zu identifizieren, Verlangen zu verspüren, zu telefonieren und eine Einladung zum Mittagessen anzunehmen, das ist in dem Moment, in dem du einschläfst - puff! - verschwunden. Auch wenn es im Schlaf in gewisser Hinsicht noch da ist, nämlich wenn du träumst.
    Aber wer träumt da?
    Wer ist der stille Zeuge deiner Träume?
    Vielleicht geschieht im Tod ja etwas Ähnliches wie im Schlaf. Oder vielleicht auch nichts. Aber eins kann ich dir versichern, Folco, nämlich dass ich zu dieser Verabredung nicht gehe, als erwarte mich ein schwarzer Mann mit einer Sense in der Hand, was immer eine Horrorvision gewesen ist. Ich gehe vielmehr mit innerer Ruhe und leichtem Herzen, so leicht wie nie zuvor. Und vielleicht liegt das an dieser Kombination von Faktoren, die ich dir gerade zu erklären versucht habe: dass ich das Sterben schon vor dem Tod ein wenig gelernt habe; dass ich mich von meinem Verlangen gelöst habe; und dass ich aus der heiligen Erde Indiens das Gefühl gesogen habe, das dieses Land vermittelt: dass ständig unendlich viele Menschen geboren werden, sterben, geboren werden und sterben, und dass die Erfahrung von Geburt, Leben und Tod allen Menschen gemein ist.
    Warum macht das Sterben uns bloß solche Angst? Wo das doch alle getan haben! Milliarden und Abermilliarden von Menschen, Babylonier, Hottentotten, alle. Aber wenn wir selber dran sind - ah! Dann sind wir verloren.
    Wie ist das möglich? Wo das doch alle getan haben!
    Wenn du es dir genau überlegst - und das ist ein schöner Gedanke, den natürlich schon viele angestellt haben -, ist die Erde, auf der wir
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