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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Autoren: Tiziano Terzani
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Erstes bekamen wir ein Radio. Das war eine tolle Geschichte. Ich weiß noch, wie nach ewigem Sparen endlich dieser erste Radioapparat gekauft wurde, auf Raten, das machte man damals so. Meine Güte, war das ein Ereignis! Ich kann mich noch genau an das Geschäft erinnern, Piazza Pitti Ecke Via Maggio.
    FOLCO: Ein erster Schritt in die Moderne.
    TIZIANO: Ja, als das Radio kam, war das wirklich ein Ereignis. Es war wunderschön, aus glänzendem Holz, mit Knöpfen, die man drehen konnte, nicht wie die digitalen Radios heute, bei denen man nie etwas kapiert. Und es hatte ein kleines grünes Licht, das anund ausging, je nachdem ob man nah an einer Frequenz war oder nicht. Das Gehäuse war gewölbt und überall abgerundet und die Knöpfe waren nicht aus Plastik, sondern aus Horn. Dieses Radio war das erste Symbol von Luxus in meiner Familie.
    Ich will nur, dass du verstehst, in was für einer Welt ich aufgewachsen bin. Eine Straße ohne Verkehr, auf der nur die von Pferden gezogene Straßenbahn vorbeikam. Nach dem Krieg lief sie dann elektrisch, und direkt vor unserem Haus drehte sie um. Sie fuhr bei uns los und dann bis ins Zentrum, bis San Frediano, das war die andere Endstation. Immer hin und her, zwischen uns und Florenz, das uns vorkam wie ein anderer Ort. Das war im Grunde das Drama meiner Mutter, ihr ganzes Leben lang: einen Mann geheiratet zu haben, der mit ihr vor die Stadt gezogen war, weg aus Florenz, weg aus dem Schatten der großen Kuppel des Doms, wo sie - das war ihr ganzer Stolz - geboren war. Meine Mutter hat immer etwas Aristokratisches gehabt und mochte sich auf diese Welt nicht einlassen: die Straße mit der Straßenbahn, die Leute, die auf ihren Fahrrädern vorbeikamen, und den Fußsteig, der so etwas wie ein Dorfplatz war. Für Klatsch hatte sie nichts übrig. Die anderen Frauen hingegen brachten an den Sommerabenden ihre Stühle mit dem Strohgeflecht auf die Straße hinunter, setzten sich vor die Tür und sahen den Kindern beim Versteckspiel oder bei „Himmel und Hölle“zu.
    Dort hat meine Sozialisierung stattgefunden. Die ersten Jahre meiner Kindheit habe ich vor der Haustür verbracht, mit meiner Mutter, die immer aufpasste, dass ich mich auch nicht schmutzig machte oder von den anderen verhauen wurde. Das war meine Welt, eine Welt voller Vorurteile natürlich, voller sozialer Schranken. „Hüte dich vor dem da! … Die Frau vom Soundso ist zu nichts nutze, besser man lässt sich nicht mit ihr ein…“Aber es war auch eine sichere, überschaubare Welt. Unerwartetes gab es nicht.
    FOLCO: Viele Entdecker sollen aus einer solchen Umgebung kommen.
    TIZIANO: Ja. Alles war genau geregelt. Und jeder wusste alles über die anderen. Man wusste, dass die Tabakverkäuferin von den Amerikanern vergewaltigt worden war, als sie am Arno Holz holen war…
    FOLCO: Was?!
    TIZIANO: Als die Amerikaner kamen und alle Bäume in Florenz fällten, holzten sie auch die „Albereta“ab, einen wunderschönen Hain mit großen Steineichen und Platanen, wahrscheinlich um an der Front Stellungen zu bauen, oder für die Eisenbahn. Dort ist später eines der bevölkerungsreichsten Stadtviertel von Florenz entstanden, der Isolotto, wo es heute keinen einzigen Baum mehr gibt. Aber in meiner Kindheit war das Niemandsland. Die Amerikaner hatten riesige Äxte, und so splitterten bei jedem Hieb große Späne ab, etwas ganz Wertvolles. Auch ich und meine Mutter gingen da hin, um sie zum Feuermachen und Kochen zu sammeln. Und dort, hieß es, sei die Tabakverkäuferin dann … Dieses Schandmal wurde sie ihr ganzes Leben nicht mehr los.
    Was ich damit sagen will, ist, dass das Individuum in dieser Gesellschaft nicht gerade frei war, im Gegenteil, es stand immer unter Kontrolle; aber diese Enge bedeutete auch ein großes Maß an Sicherheit, denn jeder wusste Bescheid über jeden. Und es gab eine starke Solidarität. Ich meine, wenn man Brot kaufen wollte und kein Geld hatte, ließ man anschreiben, ich glaube sogar, dass niemand gleich bezahlte, außer am Anfang des Monats, wenn man seinen Lohn bekam. Dabei war Ehrlichkeit etwas überaus Wichtiges. Wenn Tecla, die Bäckerin, dir aus Versehen eine halbe Lira zuviel herausgab, musstest du sie ihr zurückbringen. Heutzutage ist das kaum zu fassen, aber so waren die Regeln damals.
    In dieser total beschränkten, engen Welt bin ich aufgewachsen. Florenz war für mich weit weg. Da ging ich nur am Sonntag manchmal hin, mit meinem Vater und meiner Mutter. Wir gingen, diese Geschichte hast du
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