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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Autoren: Tiziano Terzani
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schon mal gehört …
    FOLCO: … Eis essen?
    TIZIANO: Nein. Den Reichen beim Eisessen zugucken ! Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Im Sonntagsstaat, geschniegelt und mit geputzten Schuhen - vor dem Ausgehen musste man sich immer die Schuhe putzen - ging ich mit meiner Mutter und meinem Vater, er in Schlips und Zweireiher, zu Fuß von Monticelli bis zur Piazza della Signoria.
    So nachlässig, wie ihr euch heute kleidet, kannst du dir bestimmt gar nicht vorstellen, wie das früher war. Ich sage immer, „Wir waren so arm, dass wir nicht einmal genug zu essen hatten …“, und dann siehst du uns auf den Fotos mit diesen schönen Kleidern. Aber das auf dem Foto war mein Sonntagsanzug! FOLCO: Und Fotos mit dem Montagsanzug gibt es nicht? TIZIANO: Nein. Es gab da dieses berühmte Foto von mir im Kittel, wo ich einen Finger durch ein Loch in der Kitteltasche gesteckt hatte, aber das hat meine Mutter später weggeworfen, damit man nicht sah, dass ich etwas Verschlissenes anhatte.
    Auf der Piazza della Repubblica gab es ein großes Restaurant, Paszkowsky, wo man draußen sitzen konnte, genau wie heute, und um die Kunden abzuschirmen, waren die Tische mit einer Buchsbaumhecke in großen Blumenkästen umfriedet. Und meine Eltern erlaubten mir, durch die Hecke zu lugen, um den Herrschaften beim Eisessen zuzusehen! Kannst du dir das vorstellen? Wir gingen den ganzen langen Weg, nur um den Leuten beim Eisessen zuzusehen! Für euch ist so etwas undenkbar, aber zu unserer Zeit war das so.
    Ich hatte eigentlich eine glückliche Kindheit. Die Probleme, die es natürlich auch gab, belasteten mich nicht. Es tat mir nur leid für meine Mutter, wenn sie darunter litt, dass das Geld nicht reichte. Auch die ersten Demütigungen habe ich durch ihre Augen erlebt.
    Dazu muss ich dir eine Geschichte erzählen. Oft reichte das Geld einfach nicht bis zum Monatsende. Dann ging man ins Pfandhaus, das nicht weit von der Via del Porcellana lag, wo meine Mutter aufgewachsen war. Dort konnte man alles hinbringen, auch den letzten Plunder, und bekam dafür eine kleine Summe, für die man immense Zinsen zahlen musste. Wenn man es schaffte, den Kredit rechtzeitig zurückzuzahlen, konnte man sein Pfand wieder auslösen.
    Bei uns zu Hause gab es keine Wertsachen. Schmuck besaß meine Mutter nicht, außer ihrem goldenen Ehering, doch den hätte sie nie im Leben auf den Buckel gebracht, wie man sagte. Aber ein paar unbenutzte Laken aus ihrer Aussteuer hatte sie, denn wenn junge Mädchen heirateten, bekamen sie vier, fünf Leinengarnituren mit, die lagen, hübsch mit den Initialen bestickt, in der Kommode, die so wunderbar nach Lavendel und Seife duftete. Zwei, drei Leinengarnituren wurden, wenn gar kein Geld mehr da war, zum Monte di Pietà gebracht. Ich kann mich noch genau an meine Mutter erinnern - und das war eine meiner ersten negativen Empfindungen -, die mich fest an der einen Hand gepackt hatte, denn ich war noch klein. In der anderen Hand trug sie die Tasche mit dem Paket. Sie blickte sich vorsichtig um, ob auch niemand in der Nähe war, der uns kannte und uns diesen berüchtigten Ort des Elends und der Schmach betreten sah.
    Er lacht.
    Dann sagte sie auf einmal: „Jetzt! Schnell!“, und - zack! - waren wir über die Schwelle und gingen zu dem großen Tresen, um die Laken abzugeben. Und der Angestellte, immer derselbe, sagte: „Hm, für die hier können wir Ihnen drei, vier Lire geben …“Mehr bekamst du nicht. War eine Garnitur fünfzig wert, gaben sie dir fünf. Aber mit diesen fünf konntest du das Schlimmste überbrücken. Zwei Wochen später brachtest du ihnen dann die fünf Lire plus Zinsen und bekamst deine Laken zurück. Und wieder musste man höllisch aufpassen, dass einen bloß keiner sah!
    Das war die erste negative Erfahrung meiner Kindheit: die Demütigung, zur Pfandleihanstalt gehen und erleben zu müssen, dass meine wunderbaren Eltern im Grunde schwach und verletzlich waren.
    Er lacht.
    Das wurde zur Triebfeder meines Lebens. Ich erinnere mich noch genau, dass ich schon als kleiner Junge das Gefühl hatte, aus dieser Enge ausbrechen zu müssen, die auch eine körperliche Enge war: eine kleine Wohnung, ohne Toilette, ohne fließendes Wasser, mit einem Plumpsklo. Ich fühlte mich eingeengt, ich hatte das Bedürfnis, auszubrechen und wegzugehen.
    FOLCO: Aber woher wusstest du, dass es eine andere Welt gab?
    TIZIANO: Der Erste, der dieses Andere verkörperte, war der größte Aufschneider der ganzen Familie, der Sohn
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