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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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mich aus. Es ließ mich erkennen, dass das funkelnde Farbenspiel der Sinnenwelt, das, was die Hindus den Schleier der Maya nennen, nur ein subtiler Betrug ist.
    Aber da erklärte der jüngere Assistent des Engels, ein Mann mit einem starken russischen Akzent, die sichtbare Abwesenheit von Farbe um den Engel herum sei bewusst gewählt, um eine Vorstellung von der herzlosen Leere des Universums zu geben.
    »Nur der Mensch vermag ein Heilmittel gegen das sinnlose Nichts zu finden«, fuhr er fort. »Er tut es mit Hilfe seiner Wörter und Erinnerungen, seines Bewusstseins. Die Fähigkeit, dem Leben einen Sinn zu geben, ist die größte Gabe des Menschen.«
    Ich wollte fragen, ob mein eigenes Leben einen besonderen Sinn habe. Aber ich kam nicht dazu, die Frage zu stellen, denn der zweite Assistent, ein älterer Mann mit scharf geschnittenem Profil, ein temperamentvoller und leidenschaftlicher Mensch, sagte in klangvollem Italienisch: »l’esplorazione«, die Entdeckungsreise.
    »Bei der wahren Entdeckungsreise, dem entscheidenden Abenteuer«, verdeutlichte er, »geht es um Leben und Tod. Der Reisende steigt hinab in die Menschenseele. Dort bewegt er sich in Kreisen und nimmt alles in sich auf, er schlägt Brücken aus Wörtern zu dem inneren Schweigen, das er bei seinen Mitmenschen findet, und er beginnt im eigenen Familienkreis.«
    Dann wechselte die Traumszene. Es wurde dunkel. Ich saß allein am Tisch. Ich tauchte meine Feder in ein Tintenfass und begann mit leichter Hand zu schreiben. Ich füllte die weißen Blätter langsam, methodisch, mit einem Wirrwarr von Wörtern, aber es gab auch eine zweite Struktur, die langsam sichtbar wurde. Als ich zu Ende geschrieben hatte, wurden meine Worte vom Wind verweht, die Menschen hielten den Atem an, und die Vögel verstummten.
    Der Traum war Balsam für mein Herz. Am nächsten Morgen erwachte ich – erfüllt von Freude und einem neuen Lebensgefühl. Unbekannte innere Welten taten sich mir auf. Mein Verstand wurde von einem ungewöhnlichen Licht und einer höheren Ruhe erleuchtet. Ich hatte das Unerhörte gefunden: die Geschichten. Der Sinn meines noch verbleibenden Lebens bestand darin, diese Geschichten niederzuschreiben.
SCHREIBEN
    Im Bewusstsein, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, begann ich, energisch die Vergangenheit zu dechiffrieren, um meinen eigenen Ursprung zu verstehen. Ein paar Wochen lang verschlang ich alles, dessen ich habhaft werden konnte: Dokumente über meine Familie aus dem Koffer meines Großvaters und Benjamin Spinozas stets erneut faszinierendes Buch
Das Elixier der Unsterblichkeit
. Aber auch Sachbücher und Romane. Ich las und las. Mein Appetit auf das geschriebene Wort und meine Fähigkeit, es aufzunehmen, verwunderten mich. Die Reisen im Reich der Dichtung gaben mir Nahrung und das Gefühl, so etwas wie ein Genie zu sein; ich bildete mir ein, die klugen Gedanken anderer seien meine eigenen. Angesichts guter Texte fühlte ich mich gefeit gegen die Vergänglichkeit des Daseins und glaubte an ein ewiges Leben.
    Besessen von der Vorstellung, jeder Mensch sei einzigartig und jedes Ereignis finde nur ein einziges Mal statt, begann ich, was ich noch nie getan hatte, die Geschichten aufzuschreiben, die ich seit Kindesbeinen in mir trug. Zuerst langsam, zögernd, ein wenig unwillig, denn ich fand mein Wissen allzu unzureichend und fragmentarisch im Verhältnis zur Wirklichkeit. Außerdem wusste ich nicht genau, wohin der gewundene Pfad, auf den ich mich begeben hatte, führen sollte. Schnell entdeckte ich auch das Unvermögen der Sprache, das innere Leben darzustellen; man kann nur das Äußere der Dinge beschreiben. Ich konnte einen Sachverhalt ganz und gar verstehen und dennoch eine Art Ohnmacht verspüren, wenn ich ihn in Worte fassen wollte.
    Den Prolog zu schreiben, die Zeilen über den Tod meiner Mutter, war mühsam. Es ist der Abschnitt, der mich die längste Zeit beschäftigt hat: einen ganzen Monat.
    Wie ist es möglich, dass ich so lange gebraucht habe, um einen kurzen Abschnitt von nicht einmal hundert Zeilen zu schreiben?
    Was soll ich dazu sagen? Dass es mir immer schwergefallen ist zu schreiben. Ich habe nie wirkliches Talent gehabt. Immer, wenn ich schreibe, zögere ich bei jedem Wort, mitten im Satz gerate ich aus dem Konzept, ich schreibe, streiche, schreibe neu, streiche neu, und immer so fort.
    Dann trat das ein, was man im Drama die Peripetie nennt, den Wendepunkt. Er kam bei einer Routineuntersuchung. Der Arzt entdeckte Metastasen. Mein
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