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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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hinaus aus dem Leben, sie schwebte mit einem ergebenen Lächeln davon und ließ sich von einer Leere verschlingen.

1.
DIE QUELLEN

DER ERZÄHLER
    Zuerst ein paar Worte über meinen Großonkel, den Freudenspender unserer frühen Kindheit. Es gibt so viel über ihn zu sagen, dass ich nicht annähernd alles im Kopf behalten kann, denn das Thema ist so umfassend, dass es die Grenzen meiner Erinnerung und meines Verstandes bei weitem überschreitet. Wenn ich also jetzt versuche, von ihm zu erzählen, wird es höchst unvollständig sein.
    Wir verehrten ihn, als mein Zwillingsbruder Sasha und ich klein waren. Wenn wir am Küchentisch saßen und ich ihn ansah, kam es mir manchmal so vor, als wäre die ganze Welt nicht groß genug, um meiner Bewunderung Raum zu geben. Er lehrte uns all das über unsere Familie, was wir als Kinder nicht wussten und auch nicht wissen konnten, und weihte uns in die unzähligen Geheimnisse ein, in die er selbst von jenseits des Grabes Einsicht gewonnen hatte. Er war ein fabelhafter Erzähler. Mit seinen die Phantasie beflügelnden Anekdoten, von denen er über ein unerschöpfliches Arsenal zu verfügen schien, nährte er unsere Faszination und brachte uns ständig zum Lachen. Wann immer er auftauchte, stets unangemeldet, verwandelte sich unser Alltag in ein Fest, und Sasha und ich, die wir uns sonst immer in den Haaren lagen, schlossen eine Art Waffenruhe.
    Alle nannten ihn Fernando, und sie sprachen es aus, als wäre er ein spanischer Herzog. Alle außer Großmutter, die ihn schlicht und einfach Franci nannte. Sein wirklicher Name war Franz Scharf.
    Großmutter hasste Fernando mit unauslöschlicher Glut. Warum das so war, vermochte ich damals nicht zu ergründen – erst viel später wurde es mir klar. Die Ursache des Konflikts verlor sich in einem mystischen Dunkel. Möglicherweise hatte Großmutter sie selbst vergessen. Dennoch war sie unversöhnlich, und sie machte nie ein Hehl aus ihren Gefühlen. Sie warf ihm zwar nichts direkt Ehrenrühriges oder Bösartiges vor, doch ließ sie keine Gelegenheit aus, triumphierend darauf hinzuweisen, dass er kein richtiger Verwandter, sondern nur mit einer ihrer zahlreichen Cousinen verheiratet gewesen war, noch dazu mit der unsympathischsten.
    Dass mein Großonkel eine enge Beziehung zu uns hatte, lag an seinem einsamen Dasein. Seine Frau und seine beiden Töchter, die halbwüchsigen Zwillinge Anci und Manci, waren in den hohen Schornsteinen von Auschwitz in Rauch aufgegangen.
    »Das ist sehr traurig«, sagte er eines Tages und suchte unseren Blick. »Aber so ist es.«
    Es war der 24. Oktober, ich weiß es noch genau. Herbstbleiche Sonnenstrahlen fielen durch die Gardine. Aber plötzlich färbte sich der helle Himmel schwarz. Mein Großonkel räusperte sich und begann zu weinen. Die Luft in der Wohnung war geschwängert vom Geruch angebrannter Suppe, eine von Großmutters Spezialitäten. Fernandos Tränen waren nicht aufzuhalten. Seine Schultern bebten und seine Augen röteten sich. An diesem Tag hätten seine Töchter Geburtstag gehabt. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, bekam aber einen Hustenanfall, sodass seine Worte auseinanderbrachen und in der Luft zerstoben.
    Mehr äußerte er hierüber nie. Aber mein Zwillingsbruder Sasha und ich hatten verstanden.
    Ein andermal erzählte er, langsam und beinahe flüsternd, dass er sein ganzes Leben eine Frau geliebt habe, eine einzige Frau, mehr als alles andere. Dass es nicht seine eigene Frau gewesen sein konnte, begriffen wir sogleich, denn nach einigen Sekunden fügte er hinzu: »Und sie war genau die, die ich nicht bekommen konnte. Für mich wäre ihre Liebe genug gewesen.«
    Die Küchentür stand offen, und mein Großonkel warf verstohlene Blicke zu Großmutter hin, die am Herd stand und mit sich selbst redete. Aus irgendeinem Grund musste ich grinsen. Vielleicht verstand ich intuitiv, dass dies seine Art war, uns in verdeckten Worten anzudeuten, was er in seinem Herzen trug.
    »Mein liebes Kind, lach nicht, sie zu lieben ist das einzig Gute, was ich je getan habe. Du findest es sicher seltsam, dass ein alter Mann wie ich Leidenschaft empfinden kann. Aber wenn alles andere abnimmt, nachgibt und sich verflüchtigt, hart bedrängt und schließlich besiegt vom erbarmungslosen Ansturm der Zeit, dann brennt die Flamme der Liebe weiter bis zum Tod.«
    Obwohl meinen Großonkel keine Blutsverwandtschaft mit uns verband, wusste er alles, selbst über unsere entferntesten Vorfahren. Er maß der Vergangenheit
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