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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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ein Weltbild auf, das nachtschwarz und angsterfüllt war wie bei Kafka oder Beckett.
    »Die schönsten Utopien«, so pflegte er seine Lebenserfahrung zusammenzufassen, »sollten am besten auf dem Reißbrett bleiben. Einmal verwirklicht, haben sie die unglückselige Tendenz, sich schnell in ihr Gegenteil zu verkehren.«
    Aber Großvater fand es unwürdig, sich selbst zu bemitleiden. »Jeder Idiot«, pflegte er zu sagen, »ist in der Lage, sich unglücklich zu fühlen.«
    Nur ein einziges Mal hörte ich ihn über sein Los klagen, und zwar als das Radio an jenem kühlen Novembertag, an dem das Gehirn des amerikanischen Präsidenten im Schoß seiner Ehefrau Jackie landete, wieder Liszts
Ungarische Rhapsodien
zu spielen begann. Er stand vom Bett auf, rückte das Bruchband zurecht, ging zum Kleiderschrank und holte einen mitgenommenen Koffer heraus, der mit handgeschriebenen Texten und alten Dokumenten gefüllt war. Dann sagte er wie nebenbei, er wünsche, dass ich sie später lesen solle. Ich glaube, er meinte, nach seinem Tod. Großvaters Worte waren geprägt von einer vorgetäuschten Gleichgültigkeit, um seine Trauer zu verbergen, als er hinzufügte, er bedauere viele Entscheidungen, die er in seinem Leben getroffen habe, aber Enttäuschung empfinde er nur darüber, nicht mit der großen Nase seines Vaters ausgestattet gewesen zu sein.
    Eine unmäßig große Nase vererbte sich in unserer Familie und offenbarte sich bei einem Mitglied in jeder Generation. Obwohl die Nase geradezu entstellend war, schienen die Kinder, die damit geboren wurden, Günstlinge des Schicksals zu sein. Sie waren immer ungewöhnlich glückhaft und erfolgreich in allem, was sie unternahmen. Die Nase brachte ihrem Träger Glück. Aber sonderbarerweise erlitten alle einen tragischen Tod.
DAS TESTAMENT
    Eine Woche nach Großvaters Tod versammelte sich die gesamte Familie bei uns zu Hause zur Testamentseröffnung. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass alle zusammenkamen. Vater und Tante Ilona, seine Schwester, lagen im Streit miteinander, und sie hatte zwischen sich und dem Rest der Familie einen unüberwindlichen Graben ausgehoben. Vaters Bruder, Onkel Carlo, war während des Volksaufstands 1956 aus Ungarn geflohen – als bewaffnete Banden auf der Jagd nach Kommunisten auf den Straßen wüteten und Gewalt und Blutvergießen für die Bewohner Budapests etwas Alltägliches wurden –, denn er fürchtete, im Menschengewimmel erkannt und vom rachelüsternen Pöbel gelyncht zu werden, weil er AVH-Mann gewesen war, ja mehr als das, hoher Offizier beim Staatssicherheitsdienst, und gefoltert und mit seinen bloßen Händen Menschen umgebracht hatte, die das Rákosiregime als Faschisten und Kriegsverbrecher abgestempelt hatte.
    Die Stimmung bei uns war ausgelassen. Es glich mehr einer Kindstaufe als einer Gedenkstunde für ein liebes Familienmitglied. Mutter servierte Kaffee und Gebäck aus der Konditorei Gerbeaud. Alle waren begeistert über den Luxus, den es bedeutete, in einer von Entbehrung beherrschten Zeit dieses köstliche und teure Gebäck zu essen.
    Der Konditor musste sich an diesem Tag selbst übertroffen haben, denn Onkel Carlo, der in Wien lebte und das Original in der Konditorei Sacher genießen konnte, erklärte mit der Überzeugungskraft des selbsternannten Connaisseurs, Gerbeaud stelle die beste Sachertorte der Welt her. Und er fügte hinzu, welcher Trost es ihm sei, dass die Kommunisten, denen es gelungen sei, das Land gründlich zu ruinieren, es nicht geschafft hätten, die berühmte ungarische Konditoreitradition zu zerstören. Alle lachten – außer Großmutter, die für den Humor ihres jüngsten Sohnes nie viel übriggehabt hatte. Wir Kinder lachten auch, obwohl wir keine Vergleichsmöglichkeit hatten. Süßigkeiten gab es bei uns zu Hause selten. Es war das zweite Mal, dass ich das Glück hatte, Gerbeauds himmlisch gute und höllisch teure Kuchen zu kosten.
    Die ausgelassene Stimmung wurde angespannt, als es Zeit wurde, Großvaters Letzten Willen zu hören. Alle starrten auf Vater, den neuen Paterfamilias, als er langsam den Umschlag öffnete, der das Testament enthielt. Dann und wann drehten Tante Ilona und Onkel Carlo die Köpfe und schielten zu Großmutter hinüber, die ganz hinten im Zimmer saß. Sie wirkte nervös. Sie schnaubte nur zu allem und zeigte offen ihr Missvergnügen mit der Zusammenkunft. Wahrscheinlich war sie von den Umständen – dass Großvater Vater ohne ihr Wissen ein Testament zur Aufbewahrung
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