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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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mit all den Dingen, die verblassen und uns entgleiten? Diesen Erinnerungen, die unaufhaltsam in der Zeit verschwinden, immer unklarer, immer fragmentarischer und durchsichtiger. Manchmal entwickeln die Erinnerungen ein Eigenleben, werden zu Phantasien, die sich in Bewegung setzen, sich mit Geschmack und Farbe und Duft umgeben, mit allen Kennzeichen des Sinnlichen, und sich nach und nach von der Vergangenheit befreien und in eine ganz andere Wirklichkeit übergehen, eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat, die aber doch in deutlichen Bildern lebt, welche vielleicht deutlicher sind als die wahren Erinnerungen.«
WAS IST DIE WAHRHEIT?
    Mein Name ist Ari und ich bin der Letzte in der langen Stammtafel der Familie Spinoza: Der Stammbaum hat keine weiteren männlichen Zweige, und wenn ich – so die Prognose meines Arztes – in einigen Monaten ruhig einschlafe, findet diese Familiensaga ihr wohlverdientes Ende. Ich liege in einem Krankenhaus, mein Schicksal ist besiegelt und die Erinnerungen stürmen auf mich ein. All diese Erinnerungen, von denen ich glaubte, sie seien verblasst und entschwunden in der Zeit, haben sich in Bewegung gesetzt, sie leben ihr eigenes Leben und das Vergangene wächst aus ihnen auf, unsere verwirrende, vieldeutige Vergangenheit.
    Inwiefern ist unsere Vergangenheit verwirrend und vieldeutig? Hier gleich ein Beispiel: Wie starb der Philosoph Benjamin Spinoza?
    Immanuel Kant macht geltend – in seinem Werk
Träume eines Geistersehers
–, dass er sich an einem Apfelbaum erhängte. Dagegen vertritt Bertrand Russell die Auffassung, er sei an den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs gestorben, und Isaiah Berlin schreibt in einem Brief an einen israelischen Kollegen, er sei in der Nordsee ertrunken. Marx und Engels behaupten, er sei im Gefängnis gestorben. Das Gleiche meint Lenin, der darüber hinaus erklärt, er sei von der Inquisition zu Tode gefoltert worden.
    Wer von diesen Denkern kannte die Wahrheit?
    »Die Wahrheit«, pflegte mein Großonkel zu sagen, »die Wahrheit ist, dass es so etwas wie eine einzige Wahrheit nie gegeben hat. Es gibt viele Wahrheiten. Diese Wahrheiten stellen sich gegenseitig in Frage, sie spiegeln einander, fordern sich gegenseitig heraus und sind blind füreinander.«
    Um die Wahrheit zu sagen: Wer kann mit Sicherheit behaupten und beweisen, dass einer dieser Denker unrecht hatte, dass nicht alles, was sie behaupteten, gleichzeitig geschah und dass Benjamin Spinoza in Wirklichkeit auf alle diese Arten starb?
    Wer kann garantieren, dass die Geschichte eindeutig ist, immer ein und dieselbe?

2.
DER LEIBARZT

EIN KOMET MIT DOPPELTEM SCHWEIF
    Es gab eine Legende in unserer Familie, die mein Zwillingsbruder Sasha und ich liebten, als wir klein waren, als die Welt noch offen und verlockend labyrinthisch war und ich noch die Fähigkeit besaß, sie mit den optimistischen Augen des Kindes zu betrachten. Dass ich nie müde wurde, diese Legende zu hören, beruhte vor allem auf der unübertroffenen Erzählergabe meines Großonkels. Mit gut gewählten Worten und theatralischen Gesten gelang es ihm, die ganze mittelalterliche Geschichte der Iberischen Halbinsel mit blutigen Schlachten, grausamen Herrschern, scheinheiligen Priestern und intriganten Adligen heraufzubeschwören. Dieser Legende zufolge, mit deren Hilfe er die ferne Vergangenheit unserer Familie lebendig werden ließ, begann die Geschichte der Spinozas vor sechsunddreißig Generationen in der provinziellen, isolierten und von Unterdrückung gelähmten Kleinstadt Espinosa in der Region León, unweit der Stadt Burgos in Spanien.
    Der Rabbi in Espinosa hieß Judah Halevy. Er hatte dunkle, intelligente Augen und ein fein geschnittenes Gesicht. Seine Hände waren weich und wohlgeformt wie bei den meisten Dienern des Herrn, denn statt körperlicher Arbeit widmete er sein Leben dem unermüdlichen Studium der heiligen Schriften. Seine Gelehrsamkeit war groß, er hatte sich nicht vergeblich tagein, tagaus über das wacklige Pult gebeugt und sich dadurch vorzeitig einen krummen Rücken geholt. Bei den Juden in Espinosa und den umliegenden Dörfern war er beliebt, nicht nur seiner Weisheit wegen, sondern ebenso wegen seines gefälligen Wesens. Er scherzte mit allen, brachte die Armen und Kranken zum Lachen und ließ sie für eine Weile ihr Elend vergessen. Es war augenscheinlich, dass er das Leben voller Hoffnung und die Welt voller Vertrauen als Heimstatt des Guten betrachtete.
    Judit, die Ehefrau des Rabbis, war die Tochter
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