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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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hoben sich von den Häusern, Hähne legten Eier, Ratten verschlangen sich gegenseitig. Ein berühmter Bischof in Rom sah furchterregende Gestalten, die sich am Himmel näherten, und glaubte, die Ankunft der apokalyptischen Reiter zu erleben, die Krieg, Hunger, Pest und Tod mit sich führen. Sein Haar wurde weiß und er verlor die Stimme. Man sperrte ihn in ein Irrenhaus.
    In seines Alters Herbst, während ruhiger Augenblicke, wie er sie an frühen Morgen erlebte, meinte Baruch eine Stimme zu hören, die ihm zuflüsterte, der Komet mit dem doppelten Schweif habe die Geburt seines Geschlechts angekündigt.
DIE EROBERUNG LISSABONS
    Um drei Uhr am Nachmittag des 24. Oktober 1147 ertönte ein letztes Mal die strenge Stimme des Muezzins von Lissabons größter Moschee: »Allahu akbar.« Der Ausrufer konnte seinen Ruf jedoch nicht zu Ende bringen, denn ein eifriger Kreuzfahrer aus den Reihen der anglo-normannischen Truppen stürmte die Stufen des Minaretts hinauf und schlug dem alten Araber kurzerhand den Kopf ab. Dies war das Ende der vier Monate währenden blutigen Belagerung der Stadt. Die Mauren kapitulierten bedingungslos. Der Katholizismus hatte gesiegt. Die Herolde verkündeten, dass alle Soldaten das Recht hatten, Kriegsbeute zu machen, wie es herkömmlicher Brauch war, mit Ausnahme von Dingen, die König Alfonso Henriques zustanden, dem Eroberer Lissabons. Die Stadt hallte wider von Freudenbekundungen. Ein neues Reich wurde aus der Taufe gehoben.
    Diese Ereignisse wurden von Osbernus in lateinischen Chroniken beschrieben, die unter dem Titel
De expugnatione Lyxbonensi
(Über die Eroberung Lissabons) gesammelt sind.
    Mein Großonkel erzählte Sasha und mir, Osbernus sei ein englischer Priester gewesen, und er schrieb ihm eine Reihe von Eigenschaften zu, die alle, bis auf eine, unvorteilhaft waren. Doch was an ihm positiv war, ist eine andere Geschichte, auf die ich bei nächster Gelegenheit zurückkommen werde. Osbernus hatte, trotz seiner ausländischen Herkunft, eine hohe Stellung am portugiesischen Hof inne, denn er war listig und schmeichelte der Eitelkeit des Königs mit zahllosen Preisliedern über dessen Heldenmut. Der Priester, in des Königs Gunst, schwieg sich über seinen Hintergrund aus. Statt – wie es damals üblich war – mit seinen hohen Beschützern zu prahlen, ließ er alle Welt ahnen, dass er über geheime Kontakte zu den Machthabern in London verfügte.
    Fernando fand Osbernus’ Chroniken über die Eroberung Lissabons schwülstig, übertrieben und heroisierend. Er meinte, der englische Priester habe ein verlogenes Bild von der Natur der Kreuzfahrer gezeichnet, indem er sie als mutige, gutherzige und rechtgläubige Männer darstellte, die für den christlichen Glauben kämpften. In Wahrheit seien sie Männer ohne Ehre gewesen, bereit, für ein Stück Fleisch einen Menschen zu töten.
    »Die Reconquista, die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel, war nicht der Kampf eines liebevollen, friedfertigen Christentums gegen die Barbarei des Islam«, erklärte mein Großonkel. »Es handelte sich vielmehr um einen Raubkrieg in der Absicht, die Mauren abzuschlachten, ihre Kultur zu vernichten und ihre Reichtümer zu stehlen.«
    Mein Großonkel nahm kein Blatt vor den Mund, wenn er von Alfonso Henriques sprach, dem Gründer und ersten König Portugals, den er einen blutrünstigen Tyrannen nannte. Um unser Interesse zu befeuern – er wusste, dass Großmutter es nicht mochte, wenn dieses Thema zur Sprache kam, und dass wir deshalb umso aufmerksamer zuhörten –, erzählte er manchmal von den raffinierten Foltermethoden, die der König praktizierte. Ich konnte den Gedanken kaum ertragen, dass selbst loyale Untertanen langsam zu Tode gequält wurden, als wären sie verschworene Feinde gewesen. Fernando sprach mit solchem Kenntnisreichtum und solcher Einfühlungskraft – oder lag es nur an der Glut in seinen Augen? –, dass ich lange glaubte, er habe Alfonso Henriques von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und sei dem Tod in den dunklen Verliesen der Königsburg nahe gewesen.
    Erst viel später, als ich mir ein klareres Bild von den Dingen gemacht hatte, erkannte ich, dass auch mein Großonkel die Chroniken des Osbernus kaum gelesen haben konnte, denn die erste Übersetzung aus dem Lateinischen erschien erst ein paar Jahre nach seinem Tod.
MOSES VERSPRECHEN
    Ein Jahr nach der Eroberung Lissabons zeigte sich Baruch Halevy, dem Sohn des Rabbis, eine der eigentümlichsten Erscheinungen seines jungen
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