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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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verräterisches Blut hatte die rebellischen Zellen in die entlegensten Winkel meines Körpers transportiert. Ich war gezwungen einzusehen, dass meine Zeit ausläuft, in nicht allzu langer Zeit werde ich von der inneren Revolte meines Körpers besiegt sein. Mit meinem bevorstehenden Tod hatte ich mich rasch versöhnt. Geschlecht auf Geschlecht stirbt, dachte ich, Sonnen leuchten auf und erlöschen, und bald bin ich an der Reihe und werde den gleichen Weg gehen wie alle anderen. Dagegen quälte mich der Gedanke, dass all die Geschichten, die ich in mir trage, unerzählt bleiben und alle die, die vor mir da waren, in Vergessenheit geraten werden, wenn ich meine Augen schließe.
    Ich wollte nicht zulassen, dass meine Verwandten spurlos im Chaos der Zeit verschwinden. Ich kannte nur noch dieses eine Ziel.
    Ganz unverhofft begann ich schnell zu schreiben, mit einem Gefühl der Erleichterung und Befreiung von der quälenden Wortlosigkeit. Jetzt erlebte ich täglich im Kopf, in der Seele und nicht zuletzt auch im Körper, wie viel das Schreiben mir bedeutet. Die Wörter sprudelten nur so aus mir heraus. Mein Gehirn war fieberhaft mit meiner Familie beschäftigt, die ich über Jahre hinweg zu verdrängen versucht hatte, vergessen wollte. Meine Toten tanzten Sarabande um meinen Kopf und beobachteten eifersüchtig mein Schreiben; alle pochten sie darauf, ihren Platz im Text zu erhalten.
    Ich konnte sie neben mir spüren, ihren Atem vernehmen, wenn sie sich über meine Schulter beugten und lasen, wie ich ihr Leben beschrieb. Ich konnte ihr Flüstern hören, ihre Kommentare und ihre Verwunderung, wenn ich ihnen Worte in den Mund gelegt hatte, die sie nicht gesagt haben wollten, oder ihre Geheimnisse preisgab.
    Alle waren da, außer Mutter und Vater. Sie haben eine lange Erfahrung mit mir als schlechtem Sohn, auf den sie sich nie verlassen und auf den sie nie stolz sein konnten. Vieles zwischen uns ist ungeklärt geblieben, und deshalb bin ich nicht in der Lage, ihr Leben sachlich und korrekt wiederzugeben. Das wissen sie. Das ist der Grund, warum sie sich von mir ferngehalten haben. Mutter und Vater haben wohl gehofft, ich würde sie mit dem einzig Würdigen umgeben: meinem Schweigen.
    Selten fiel ich vor zwei Uhr nachts ins Bett, um schon nach vier Stunden von einer inneren Uhr geweckt zu werden und wieder mit dem Schreiben zu beginnen. Ich kleidete mich morgens kaum noch an; es stahl mir allzu viel kostbare Zeit. Wenn ich etwas aß, dann geschah es eher achtlos. Niemand und nichts existierte außer dem Text. Die Worte ließen mich alles andere vergessen. Durch das Schreiben wurde ich mit der Energie der Sprache aufgeladen, und wie Scheherazade gelang es mir, den Engel des Todes noch eine Weile auf Distanz zu halten.
    Was ich hier niedergeschrieben habe, ist kein Bekenntnis. Es ist ein Bericht. Er handelt davon, was geschehen ist. Es sind Erzählungen wie diese über die Familie Spinoza, zusammen mit Millionen anderer Familienchroniken, aus denen die große Geschichte der Menschheit besteht.
    Die Zeit vergeht wie im Flug. Unsere Vergangenheit ist für immer vorbei. Die Zukunft braucht mich nicht. Sie wird von anderen erbaut. Ich kann ruhig meine Augen schließen. Meine Aufgabe auf Erden ist erfüllt. Ich habe das Elixier meines Ahnvaters Baruch durch das einzige ersetzt, was Menschen auf der Erde Unsterblichkeit schenkt: die Fähigkeit, sich zu erinnern.
    Außer meinen Worten hinterlasse ich nichts. Das Kleinod der Familie, Benjamins Buch, nehme ich mit mir ins Grab. Als der unverbesserliche Kettenraucher, der ich bin – etwas, wovon nicht einmal der Krebs mich befreien konnte –, habe ich für jedes hier aufgezeichnete Bruchstück unserer Familiengeschichte eine Seite aus Benjamins großartigem Buch herausgerissen, Tabak daraufgelegt, sie zusammengerollt und geraucht.
    In diesem Augenblick geht die letzte Seite des
Elixiers der Unsterblichkeit
in Rauch auf.

Über den Autor/Übersetzer/Übersetzerin
    Gabi Gleichmann, 1954 in Budapest geboren, wuchs in Schweden auf und lebt heute in Oslo. Er studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, arbeitete als Journalist und war Präsident des schwedischen PEN Clubs. Heute ist er Verleger, Autor und Kritiker. Für
Das Elixier der Unsterblichkeit
erhielt er 2012 den Norwegischen Debütpreis.
    Wolfgang Butt, 1937 geboren, übersetzte u.a. P. O. Enquist und Arne Dahl sowie sämtliche Kriminalromane von Henning Mankell.
    Kerstin Hartmann, 1960 geboren, studierte Skandinavistik,
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