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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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übergeben hatte – überrumpelt worden.
    Alles stand da, auf einem vergilbten Papier aufgezeichnet, wer was aus Großvaters dürftiger Hinterlassenschaft erben sollte, ferner seine Wünsche die Beerdigung betreffend. Das Testament umfasste sechs Zeilen und ein kurzes Postskriptum, in dem er sich dafür entschuldigte, so wenig hinterlassen zu haben.
    Kleider und Schuhe sollten verbrannt werden. Die Armbanduhr, das einzig Wertvolle, das er besaß, fiel meinem Bruder Sasha zu. Den abgewetzten, mit allerlei Papieren gefüllten Koffer hinterließ er mir. Den Ehering, hieß es, habe er Großmutter oft zurückgeben wollen. Jetzt bekam sie ihn endlich. Als letztes, wenngleich nicht unwichtiges Detail unterstrich er, dass er nicht auf einem jüdischen Friedhof landen wolle. Als Toter wolle er kein Jude mehr sein.
    Vater legte das Testament nieder. Eine Minute lang sagte keiner etwas. Es war offensichtlich, dass Vater und seine Geschwister enttäuscht waren. Nicht weil Großvater ihnen nichts vererbt, sondern weil er nicht einmal ihre Namen genannt hatte. Alte Wunden wurden aufgerissen, altes Unrecht wurde aufgerührt. Die Gewissheit, vom Vater nicht geliebt worden zu sein, war ein Dämon, den seine Kinder nie beschwören konnten, er tauchte immer wieder auf.
    In Vaters Gesicht zeigte sich keine Gefühlsregung, er war ein Meister der sparsamen Mimik. Onkel Carlo stand auf, schob den Stuhl zurück, tat ein paar Schritte, blieb stehen, sah sich im Zimmer um und konstatierte, dass es nach acht Jahren im Exil auf jeden Fall wert gewesen sei, nach Ungarn zurückzukommen, um Gerbeauds schmackhafte Kuchen zu kosten. Tante Ilona fiel es schwer, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Sie fing an, darüber zu reden, dass ihre einzige Erinnerung an den Vater darin bestand, dass er ständig schimpfte, drohte und sich ironisch über seine Kinder ausließ, aber sie biss sich auf die Lippen und verstummte. Dann nahm sie sich zusammen und trank ein Glas Wasser, um ihr Herz zu beruhigen oder überhaupt irgendetwas zu tun. »Das Leben ist hart«, stellte sie wehmütig fest. »Aber man darf nicht alles so dramatisch nehmen. Dieses Testament hat sowieso keinerlei praktische Bedeutung.«
    In gewisser Weise hatte Tante Ilona recht. Das Testament erwies sich als überflüssig. Das Schicksal, das Großvater stets stiefmütterlich behandelt hatte, wollte es noch einmal anders als er.
    Die Kleider verkaufte Großmutter noch an seinem Sterbetag auf einem nahe gelegenen Flohmarkt. Die Armbanduhr hatte Großvater sowohl Sasha als auch mir versprochen. Er pflegte uns dieselben Worte ins Ohr zu flüstern: »Du bist das beste Kind. Du wirst die goldene Zwiebel erben.« Deshalb empfand ich es als recht und billig, dass mein Bruder Sasha sie nie bekam. Denn Großmutter brachte die Uhr zusammen mit dem Ehering rasch ins Pfandhaus. Und ebenso rasch entledigte sie sich der Quittung, denn sie war der Meinung, keine Rücksichten nehmen zu müssen.
    Auch Großvaters letzter Wunsch wurde nicht erfüllt. Schon am Tag nach seinem Tod wurde er in der hintersten Ecke des jüdischen Friedhofs beerdigt, denn Großmutter hatte herausgefunden, dass es dort am billigsten war.
DER KOFFER
    Also erbte nur ich etwas von Großvater. Aber ich hatte es nicht eilig, den kleinen Koffer zu öffnen. Ich glaubte zu wissen, was er enthielt. Zuweilen hatte ich Großvater Aufzeichnungen in ein blaues Notizbuch machen sehen, doch konnte ich für diese Schreibereien kein Interesse aufbringen.
    Vater nahm den Koffer an sich und rührte ihn dreißig Jahre nicht an. Nach Mutters Tod, kurz bevor er sich das Leben nahm, übergab Vater mir den Koffer. Ich öffnete ihn und erkannte, dass ich mich all die Jahre getäuscht hatte.
    Der Koffer enthielt nicht Großvaters Aufzeichnungen, sondern allerlei historische Dokumente über die Familie Spinoza, viele allerdings schwer zu deuten, sodass man sich unmöglich darauf stützen konnte. Ich fand ein gewaltiges Durcheinander von Briefen, Tagebüchern aus verschiedenen Jahrhunderten, Geburtsurkunden, Testamenten, Verträgen, Nachlassverzeichnissen und ungeordneten Papieren. Ganz zuunterst lag ein Buch in einem fleckigen braunen Couvert. Es waren die geheimen Aufzeichnungen meines entfernten Vorfahren, des Philosophen Benjamin Spinoza:
Das Elixier der Unsterblichkeit
.
    Mehr als die Hälfte der Blätter in Großvaters blauem Notizbuch war herausgerissen. Die einzige Aufzeichnung, die das Buch noch enthielt, lautete: »Wie soll man mit der Vergangenheit umgehen,
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