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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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sind beschäftigt.« Fernando verzog keine Miene, denn er war überzeugt, es sei ein simpler Trick. Die anderen im Raum waren verblüfft, und auch das erfahrene Medium machte große Augen.
    Dann fuhr die Stimme fort: »Die Mädchen sind beschäftigt, sie lesen Kapitän Nemos Abenteuer. Aber sie lassen ihren Vater grüßen. Ich bin Shoshana Spinoza. Wenn der Vater der Mädchen mehr über das Dasein auf der anderen Seite erfahren will, beantworte ich seine Fragen gern bei der nächsten Zusammenkunft.«
    Meinem Großonkel fiel die Kinnlade herunter. Dies war bemerkenswert. Mehr als bemerkenswert. Es konnte sich nicht um einen Trick handeln. Er sah ein, dass sein Verdacht gegen die Spiritisten übertrieben gewesen war. Denn niemand im Raum kannte die Namen der Mädchen oder wusste, dass das letzte Geburtstagsgeschenk, das sie von ihm erhalten hatten, Jules Vernes
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
war. Dies war also eine klare und exakte Botschaft. Es gab wirklich Kontakt mit der anderen Seite.
    Nach dem Besuch bei der Gesellschaft Ad Astra ging Fernando nach Hause. Es schlug zwölf Uhr, als er seine kleine Wohnung betrat. Er setzte sich auf das ungemachte Bett und konnte nicht aufhören, an Shoshana Spinoza und das, was sie aus der Geisterwelt mitgeteilt hatte, zu denken. Als er sich schließlich vorbeugte, um die Schuhe auszuziehen, fiel sein Blick auf eine Zeitung, die unter dem Bett lag. Er hob sie auf und erstarrte. Das konnte nicht wahr sein. Der Artikel auf der Seite, die er vor sich hatte, handelte von der Jungfernfahrt des amerikanischen Atom-U-Boots Nautilus zum Nordpol und war von einer Journalistin namens Hannah Sós-Szipoa verfasst. Mein Großvater erfasste in Sekundenschnelle, dass Hannah Sós-Szipoa ein Anagramm von Shoshana Spinoza war. Er spürte, wie ihm die Zeitung aus den Händen glitt und wie hinter ihm jemand schwer atmete. Einen Augenblick lang fuhr ihm der Schreck in die Glieder, er zitterte am ganzen Körper und wagte nicht, sich umzudrehen, nicht weil er fürchtete, ihm könnte Schlimmes widerfahren, sondern weil er meinte, allmählich wahnsinnig zu werden. Aber ebenso plötzlich erkannte er, dass er nicht vom Wahnsinn befallen war, sondern dass ihn die Vorahnung von einer neuen Welt überkommen hatte, einer jenseitigen Welt, gegen die seine Vernunft sich lange gesträubt hatte, einer Welt, in der er ein anderer Mensch werden würde, nicht in dem Sinne, dass ein neues Wesen aus seinem Inneren hervorgehen würde, wie ein Schmetterling aus der Larve, sondern dass er, um die Gesetze der neuen Welt zu verstehen, das Dasein mit anderen Augen betrachten musste.
    So hielt das Mystische Einzug in Fernandos Leben. Er war so ergriffen von seinen Erlebnissen an diesem Abend, dass er, der geborene Skeptiker, mit den Lehren des dialektischen Materialismus vertraut, an die Unsterblichkeit der Seele und die Fähigkeit des Menschen, nach dem Tod zu kommunizieren, zu glauben begann. Und überall, nicht nur zu Hause bei uns, sondern in Parks, wo Leute Schach spielten, in Bussen und in der U-Bahn, in Doktor Kisházys Wartezimmer, überall fand mein Großonkel willige Opfer, die seinen leidenschaftlichen und wortmächtigen Darlegungen über das Leben auf der anderen Seite des Grabes zuhören mussten.
    Shoshana Spinoza erzählte viel mehr über unsere Familie und unsere Vorväter als über die Töchter meines Großonkels. Sie enthüllte Fernando auch verblüffende Dinge über den Ursprung des Universums und Götter, die am Anbeginn der Zeiten lebten. Sie sprach von der Zeit, als die Erde noch wüst und leer war, beschrieb bis ins Detail die sechs Welten, die untergingen, bevor unsere Welt geschaffen wurde, die siebte, letzte und vollkommene. Sie erklärte auch die Zahl Sieben, die heiligste und geheimnisvollste aller Zahlen, ihre Mystik und Kraft als Auswirkung der Ordnung in der Schöpfungsfolge. In unserem eigenen Universum, erzählte sie, sei alles nach dem Prinzip der Sieben geordnet: die Tage, die Farben, die Himmelssphären, die Engel, die Liebe.
    Die Auskünfte, die mein Großonkel uns über Shoshanas Botschaften vermittelte, waren nicht selten ein wenig widersprüchlich. Dies hänge damit zusammen, erklärte er uns, nachdem Großmutter ihn zur Rede gestellt hatte, dass es ihm versagt sei, alles, was er wisse, zu enthüllen. Denn er habe eine Art Schweigegelöbnis abgelegt, als er Mitglied in der spiritistischen Gesellschaft wurde. Aber alle Geschichten, die unsere ferne Verwandte Shoshana Spinoza betrafen,
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