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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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ebenso liebenswürdigen wie skrupellosen praktischen Arzt, der seinen dürftigen kommunalen Lohn dadurch aufbesserte, dass er gegen saftige Bezahlung alle möglichen Pillen verschrieb, um die die Patienten ihn baten. Es störte ihn nicht, dass diese Medikamente auch gefährlich sein konnten. Denn er lebte in der unerschütterlichen Überzeugung, dass die Menschheit die Welt nicht durch die Abschaffung von Krankheiten bereichern würde, sondern nur dadurch, dass sie das Problem der zunehmenden Überbevölkerung zu lösen versuchte. So war Doktor Kisházy nicht unbedingt ein Sinnbild von Mitgefühl mit den Schwerkranken. Dagegen konnten ihm angesichts einiger Strophen Dantes Tränen in die Augen treten, und vor einem guten Glas Tokaier zerfloss sein Gesicht in Glückseligkeit. Er machte kein Hehl daraus, dass ihm weiße Weine mehr am Herzen lagen als die Gesundheit seiner Patienten, und er konnte mit verbundenen Augen schon nach dem ersten Schluck jeden Riesling aus dem Siófok-Gebiet erkennen.
    Aus einem unbekannten Grund hielt mein Großonkel große Stücke auf Doktor Kisházy und war ihm für jeden Rat dankbar. Er vertraute ihm an, dass seine Gedanken in letzter Zeit immer häufiger um den Tod seiner armen Töchter kreisten, was zum Teil darauf zurückzuführen war, dass es ihm schon immer schwergefallen war, sich mit der launischen Ungerechtigkeit abzufinden, die das Leben mancher Menschen so kurz macht und sie hinwegrafft, bevor sie aufgeblüht sind. Er erzählte ihm auch, dass die starken Beruhigungspillen, die er seit Jahren nahm, seine inneren Dämonen nicht mehr in Schach halten konnten und dass er jede Nacht Albträume hatte – meistens sah er seine Töchter bei lebendigem Leib in einem Krematoriumsofen brennen. Ein düsterer mentaler Zustand werde durch noch stärkere Pillen auf keinen Fall erträglicher, konstatierte der Arzt und schlug ihm einen Besuch bei der spiritistischen Gesellschaft vor, die von seinem Schwager geleitet wurde. Ein direkter Kontakt mit den toten Mädchen könnte Fernandos trauerndes Herz dazu bringen, sich aus seiner eingesunkenen Brust zu befreien und frei wie das Herbstlaub über Budapests Boulevards zu schweben. Er versprach, einen Empfehlungsbrief zu schreiben. Zunächst verhielt mein Großonkel sich abweisend, denn er glaubte nicht an die Geisterwelt und sah keinen Anlass zum Besuch der spiritistischen Gesellschaft. Aber die Albträume verschwanden nicht und er sehnte sich danach zu wissen, was mit seinen Töchtern geschehen war.
    Eines Mittwochabends lenkte mein Großonkel ein wenig widerwillig seine Schritte zur Wohnung von Adalbert Nagyszenti. Der Psychoanalytiker empfing ihn in einem Schottenmusteranzug und bat ihn sogleich in einen angrenzenden Raum, in dem fünf Personen um einen runden Tisch saßen. Er wurde neben dem Medium plaziert, das sich offenbar in Trance befand und ein unverständliches Kauderwelsch von sich gab. Die Séance war anscheinend schon einige Zeit im Gange. Im Halbdunkel konnte Fernando die Gesichter der anderen Teilnehmer kaum erkennen. Aber er begriff rasch, dass der distinguierte ältere Herr, der ihm gegenübersaß, Kontakt zu seinem einzigen Sohn zu erlangen suchte, von dem er fürchtete, er sei irgendwann Ende der vierziger Jahre in einem Arbeitslager in Nordsibirien ums Leben gekommen. Fernando wusste nur allzu gut, was Kolyma war, was Leiden war, was der Tod war. Er bekam einen Magenkrampf, als er den Namen Josef Stalin hörte. Danach senkte sich Schweigen über den Raum. Der Hausherr fragte nach ein paar Minuten mit gedämpfter Stimme, mit wem mein Großonkel in Kontakt zu kommen wünsche. Fernando flüsterte, es seien seine Töchter, ohne aber ihre Namen zu nennen. Das Medium versank noch tiefer in Trance und schnippte rhythmisch mit den knöchernen Fingern, um die dienstwilligen Geister um Beistand zu bitten, die Töchter des Gastes auf der anderen Seite zu finden. Die Frau wiederholte ihre Bitte mehrere Male. Doch so sehr sie es auch versuchte, es gelang ihr nicht, einen Kontakt herzustellen. Nachdem eine halbe Stunde vergangen war, konnte das Ergebnis nicht niederschmetternder sein. Das bekräftigte den Verdacht meines Großonkels, es handle sich beim Spiritismus einzig darum, durch geschickte Manipulationen leichtgläubigen armen Teufeln weiszumachen, sie könnten mit ihren lieben Dahingeschiedenen sprechen. Er wollte schon aufgeben und die Séance verlassen, als hinter ihm eine schwache, entfernte Stimme vernehmbar wurde: »Anci und Manci
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