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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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damit, es eines Tages zu tun.
    Zehn Jahre später, als der Arzt mir ohne Umschweife eröffnete, dass ich von einem aggressiven Krebs betroffen sei und mein Kehlkopf umgehend entfernt werden müsse, wurde ich unerwartet an den Tag erinnert, an dem Mutter uns verließ. Mein Herz begann heftig zu schlagen und meine Sinne schärften sich. Ich sah Mutter im Bett ihre letzten Worte murmeln und mich selbst, wie ich ihr zu verstehen gab, eines Tages das abgesonderte kleine Universum zu schildern, das unsere Heimstatt auf Erden war. Erst in jenem Augenblick ging mir auf, wie viele Jahre vergangen waren, ohne dass ich mein Versprechen eingelöst oder etwas aus meinem Leben gemacht hätte.
    Lange hatte ich die Gewohnheit, mit meinem Leben unzufrieden zu sein. Angefressen vom Missmut der mittleren Lebensjahre, der sich durch nichts vertreiben ließ, weder durch spannende Auslandsreisen noch durch die relative Ruhe des Alltagslebens, klagte ich oft und wurde zuweilen von Wutanfällen gepackt. Ich verfluchte Gott, der immer abwesend gewesen war, ebenso wie meine toten Eltern, die nie anwesend gewesen waren. Aber vor allem ging ich mit mir selbst hart ins Gericht, denn ich hatte noch nichts von Wert verrichtet.
BÜCHER UND TRÄUME
    Seit meinem siebzehnten Lebensjahr und bis zum Beginn meiner Krankheit war ich bei einem großen Buchlager in Oslo angestellt. Wilhelm hatte mir die Arbeit besorgt. Dort habe ich über dreißig Jahre lang einen Gabelstapler gefahren, jeden Arbeitstag von acht bis halb fünf, habe Paletten mit Büchern hin und her bewegt, die in Kartons verpackt waren, habe sie auf hohen Regalen abgestellt oder von den Regalen heruntergeholt, die von verschiedenen Verlagen im Lager angemietet worden waren. Es war eine einfache und monotone Arbeit, die von meiner Seite keine besondere Anstrengung erforderte. Das passte mir ausgezeichnet, denn ich habe mich nie nach den Früchten des Erfolgs gestreckt, ich war eher träge und hatte nicht das Bestreben, mich in die eine oder andere Richtung zu entwickeln.
    Mein ganzes Leben lang habe ich die Luft der Bücher eingeatmet. Bücher zu lesen, das lag mir allerdings weniger. Meine Eltern waren große Leser. Gierig griffen sie nach jedem neuen Buch, das in Ungarn veröffentlicht wurde. Das war ihre Art, ein paar Körnchen der Wahrheit in einem Land zu suchen, wo alles im öffentlichen Leben von der Lüge angefressen war. Alle Wände und Winkel unserer Wohnung waren mit Romanen und Gedichtsammlungen vollgestellt. Aber ich schlug nie eins dieser Bücher auf, sondern begnügte mich damit, die Buchrücken anzusehen und mit den Fingerspitzen darüberzustreichen. Möglicherweise war es ein Protest gegen Vater und Mutter, die der Literatur mehr Zeit widmeten als mir und ständig den wohltuenden Einfluss des Lesens predigten. Ich selbst hörte dagegen tausendmal lieber den Geschichten meines Großonkels zu, als ein Buch zu öffnen, auch wenn meine Eltern Sasha und mich zuweilen warnten, dass Fernando das Blaue vom Himmel herunterlog.
    Mein Desinteresse an Büchern beruht wohl hauptsächlich darauf, dass Lesen Geduld erfordert, und Geduld war nie meine starke Seite. Dagegen habe ich mit den Jahren im Buchlager Gefallen daran gefunden, morgens in Romanen zu blättern, besonders von Autoren, deren Namen ich kannte. Es fing damit an, dass ich auf einer Veranstaltung eine attraktive junge Frau traf, die es für selbstverständlich hielt, dass ich, der ich mit Büchern zu tun hatte – ich hatte mich ihr allerdings nicht als Gabelstaplerfahrer in einem Lagerraum vorgestellt –, Gabriel García Márquez’
Hundert Jahre Einsamkeit
gelesen hätte. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich zugeben sollte, dass ich mich nie in Bücher vertiefte, aber ich schämte mich ein wenig. Außerdem fand ich, dass es, dem Titel nach so schien, als spräche sie von einem Roman, der Berührungspunkte mit meinem eigenen Leben aufweisen könnte und den ich natürlich gelesen haben sollte. Deshalb log ich und schrieb auf einen Zettel, dass ich das Buch sehr schätzte, besonders die Partien, die sich in Zentraleuropa abspielten, denn dort kannte ich mich wirklich aus und hätte es genossen, meiner Welt zu begegnen. Wie mein Großonkel zu sagen pflegte, ist es leichter, einen Lügner einzuholen als einen lahmen Hund. Wie recht er hatte, entdeckte ich an diesem Abend. Die junge Frau hielt leider nicht hinter dem Berg damit, dass ich gelogen hatte. Da beschloss ich, mir von nun an die Bücher im Lager anzusehen, um der
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