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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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Plötzlich hörte ich mit meinen Träumereien und meinen Klagen über das Dasein auf. Jeden Morgen erwachte ich mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Freude darüber, noch am Leben zu sein.
    Dagegen begann die Wortlosigkeit mich zu quälen. Zwar war ich seit über dreißig Jahren stumm und hatte mich längst daran gewöhnt, mit Hilfe kleiner Zettel zu kommunizieren, auf die ich schnell meine Gedanken kritzelte. Doch irgendwo in meinem Inneren hatte stets eine winzige Hoffnung gelebt, eines Tages wieder sprechen zu können. Diese Hoffnung machte das Skalpell des Chirurgen jetzt endgültig zunichte. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass es sowieso wenig wahrscheinlich war, jemanden zu finden, der bereit wäre, mir zuzuhören. In all meinen Jahren in Norwegen hatte ich nämlich nie einen Menschen getroffen – von Wilhelm abgesehen –, der bereit gewesen wäre, mich ohne Vorbehalte in den Arm zu nehmen und sich meine Geschichte anzuhören. Aber es half nichts. Denn zur gleichen Zeit, als die Vergangenheit in meinem Inneren aufzusteigen begann, wurde ich, nachdem jede andere Hoffnung geschwunden war, von einer starken Lust ergriffen, Geschichten darüber zu erzählen, wie erbarmungslos das Leben mit meiner Familie umgesprungen war.
DIE GESCHICHTEN
    Ich wurde in einer Welt geboren, in der die Vergangenheit mehr bedeutete als die Zukunft. Das Morgen, das für andere Menschen herrliche Versprechen in sich trug, hatte uns nichts von Wert zu sagen. Wir hatten das goldene Zeitalter hinter uns, und es war in tiefes Schweigen gebettet. Denn bemerkenswerterweise sprach keiner in der Familie von den Schicksalen unseres Geschlechts, entweder weil man das Vergangene nicht zu verarbeiten vermochte oder weil man uns Kinder bewahren wollte vor all dem, was den Spinozas im Lauf der Zeiten widerfahren war.
    Solange wir zurückdenken konnten, waren wir vom Unglück verfolgt. Fast alles, was in der Welt geschah, geriet uns zum Verhängnis. Das Mittelalter. Die Aufklärung. Die Französische Revolution. Die Emanzipation. Die Weltkriege. Der Katholizismus. Der Nationalsozialismus. Der Kommunismus. Der Liberalismus.
    Das Leben unserer Familie ruhte auf Fundamenten, die uns in der Vergangenheit nie Sicherheit gewährt hatten und dies auch in der Zukunft nicht tun würden. Wir waren säkularisierte Juden, die den Kontakt mit den traditionellen Glaubensvorstellungen und Bräuchen verloren hatten, ohne gleichzeitig in den Welten, in denen wir lebten, Wurzeln zu schlagen. Folglich waren wir aus jeder fruchtbaren Gemeinschaft ausgeschlossen.
    Wäre mein Großonkel nicht gewesen – ein Mann, der nicht einmal blutsverwandt mit uns war –, wären Sasha und ich unter der Tyrannei des Schweigens aufgewachsen. Aber unsere verborgenen Legenden und alle Erfahrungen, die tief in unseren Genen versteckt lagen, wurden von ihm hervorgelockt. Mit Hilfe seiner sagenhaften Erzählgabe ließ er unser Erbe für uns lebendig werden. Ich bin mir sicher, dass er wusste, was das Verdrängen der Vergangenheit bei uns Kindern anrichten konnte, und er wollte meinem Zwillingsbruder und mir Lebenskraft und Mut einflößen, indem er uns etwas schenkte, worauf wir stolz sein konnten: starke Wurzeln. Deshalb lehrte er uns, dass immer die Umstände Schuld trugen. Nie wir.
    Nichts erschien Sasha und mir natürlicher, als den Geschichten meines Großonkels über Ereignisse zu lauschen, die vor sehr langer Zeit stattgefunden hatten. Das erlebten wir als großes Glück. Eine ganze Welt von Gestern schilderte er unablässig in einer Art von melancholischer und zugleich glücklicher Freude, die Sasha und mich ein wenig wirr im Kopf machte.
    Plötzlich tauchten diese Geschichten wieder auf, sie drängten einfach ohne Vorwarnung aus dem Dunkel meines Inneren herauf. Ich erkannte, dass ich unzählige Anekdoten in mir trug, und ich konnte das mächtige und immer stärker pochende Bedürfnis, all das, was in mir war, zu erzählen, nicht mehr unterdrücken. Aber wie erzählt man Geschichten, wenn man keine eigene Stimme hat?
EIN NÄCHTLICHER TRAUM
    Eines Nachts hatte ich einen sonderbaren Traum. Ich saß an einem Tisch und unterhielt mich mit einem Engel und seinen beiden Assistenten. Ein herrlicheres Wesen als diesen Engel mit seiner freudigen Sinnlichkeit und seiner Lebensklugheit hatte ich noch nie gesehen. Um den Engel herum schimmerte das schweigende Weiß der Milchstraße. Dieses Weiß, so unerreichbar und so absolut, übte eine ganz besondere Anziehungskraft auf
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