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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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Peinlichkeit zu entgehen, noch einmal bei einer Lüge über meine nicht vorhandene Bildung ertappt zu werden.
    Es reichte mir, einige Minuten in einem Buch zu blättern, um mir eine Auffassung von seinem Inhalt zu bilden. Oft setzte dies sogleich meine Phantasie in Bewegung. Einen Gabelstapler zu fahren ist eine einsame Arbeit, man trägt den ganzen Tag einen Ohrenschutz, der den Lärm dämpft, einen aber gleichzeitig isoliert. Aber auch während der Mittagspausen pflegte ich für mich allein zu bleiben. Die Stummheit hatte mir den soliden Ruf der Dummheit und Einfältigkeit eingebracht, deshalb suchten meine Arbeitskollegen selten meine Gesellschaft. Nachdem ich ein Buch aufgeblättert hatte, ließ ich also meinen Gedanken freien Lauf. Das machte die einförmige Arbeit entschieden leichter. Nach einiger Zeit wurde eine Gewohnheit daraus. Schon des Morgens beim Aufstehen war meine Phantasie in Bewegung und ging auf schwindelerregende Abenteuer aus, und so ging es weiter, bis ich am Abend einschlief. Ich fand immer ein neues Buch, das mich auf einen Einfall brachte, den zu verfolgen sich lohnte. Am einen Tag, nachdem ich am Morgen Franz Kafkas
Prozess
in der Hand gehalten und den Klappentext überflogen hatte, war ich ein glänzender, gerissener Anwalt – à la Perry Mason im Fernsehen – und rettete mit Hilfe meiner Redegewandtheit den unschuldigen Josef K. vor der ihm zugedachten Todesstrafe. Ein andermal ließ mich der Zufall zu einem Band von Marcel Prousts
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
greifen, und eine ganze Woche lang sah ich die wunderschöne Herzogin Guermantes in meinen Armen liegen und um noch mehr Liebe betteln. Dostojewskis
Idiot
ließ mich davon träumen, ich wäre Doktor Freud und hätte eine wunderwirkende Behandlungsmethode entwickelt, die alle psychisch Kranken der Welt heilte. Und Joseph Conrads dünnes Buch
Das Herz der Finsternis
regte mich – in Verbindung mit der Nachricht von der Verleihung des Friedensnobelpreises an Mutter Teresa – zu der Phantasie an, ich hätte die Kinder Afrikas vor tödlichen Krankheiten und Hunger gerettet.
BEFREIUNG VON DER LEBENSANGST
    Obwohl meine Tagträume beinahe täglich variierten, liefen sie in Wirklichkeit immer auf ein und dasselbe hinaus: Ich war jemand Besonderes, meine Taten versetzten die Welt in Erstaunen. Es kam mir nie in den Sinn, dass ich mich diesen Träumereien hingab, um meine triste Wirklichkeit auf Abstand zu halten. Denn die Wahrheit ist, dass mein Leben in Norwegen miserabel und einsam gewesen ist.
    Es gelang mir nicht, in dem neuen Land Teil einer Gemeinschaft zu werden. Ich fand nie Freunde. Ich lebte ziellos. Mit geschlossenen Augen erlebte ich die Liebe und den Genuss, die Verlockungen des Lebens. Mein Dasein war von Flucht geprägt, in Gedanken war ich immer auf dem Weg zu anderen Orten. Mein großer Fehler bestand darin, mich nie hinzugeben, nie den Versuch zu machen, mich zu integrieren, indem ich mich verhielt wie alle anderen. Es rächt sich, seinen eigenen Weg zu gehen. Menschen, die als Außenseiter leben, erleiden bald Schiffbruch. Ich habe für mich allein gelebt, einsam, ohne Sinn und Ideal, mein Dasein war nur eine Art und Weise, die Zeit vergehen zu lassen.
    Es ist ein trauriger, doch zugleich feierlicher Augenblick, wenn einen die Einsicht überkommt, dass man sein Leben, das einzige Leben, das einem geschenkt wird, fortgeworfen hat. Im Normalfall pflegten selbst kleinere Missgeschicke mich mehrere Wochen niederzudrücken, und wenn es mir schlechtging – was in regelmäßigen Abständen vorkam –, verbiss ich mich in mein Unglück, ergab mich der Verzweiflung. Aber diesmal war es anders. Weder die Tatsache, dass ich an Schlaflosigkeit litt und mir das Schlucken schwerfiel, noch die ominöse Diagnose Kehlkopfkrebs konnten mich aus der Fassung bringen. Im Gegenteil. Ich akzeptierte im Stillen, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach binnen kurzer Zeit sterben würde, und sonderbarerweise befreite mich der Tod von meiner Lebensangst. Der Tod gab mir das Recht, ich selbst zu sein und den aufgezwungenen Kontrakt mit meinem früheren Leben aufzukündigen. Da ich nichts mehr vom Leben zu erwarten hatte, konnte ich ebenso gut etwas Unerhörtes tun, das den Alltag aufheben würde. Doch was sollte das sein?
    So frenetisch ich auch nach einer Antwort suchte, meine Gedanken verirrten sich ständig in einem Sumpf von Banalitäten.
    Die Operation veränderte mein Dasein, und ich machte eine seltsame Verwandlung durch.
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