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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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langer Dauer. Kurz vor Ostern kam er bei einem Lawinenunglück in den Alpen ums Leben. Als Wilhelm starb, war es wie ein Vorzeichen, wie ein Läuten der Totenglocke für das ganze Geschlecht Spinoza. Wir konnten nicht mehr lachen und uns unbeschwert fühlen. Nach mehr als acht langen Jahrhunderten voller Trauer und Freude, nach so vielen Prüfungen, die wir durchgemacht und überlebt hatten, glitt die Zukunft uns aus den Händen.
ENG UMSCHLUNGEN
    Über die Laune der Hausmeisterin brauchte man nie im Zweifel zu sein. Frau Lakatos war immer verdrießlich und knurrig und hatte für jeden, der in unser Haus ging, eine sauertöpfische Bemerkung oder einen boshaften Kommentar. Nichts konnte in dem Viertel, wo ich aufwuchs, vonstatten gehen, ohne dass sie die Hände mit im Spiel hatte. Jeder wusste, dass sie von allem, was im Viertel geschah, der Polizei Bericht erstattete. Es war ihre Funktion als Spitzel, die ihr die Macht gab, über Nachbarn und Passanten Gift und Galle auszuspeien.
    Frau Lakatos verachtete alle, außer Großmutter. Woran dies lag, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Doch Großmutter war eine großzügige Seele, auch wenn sie auf ihre alten Tage dazu tendierte, ihre engste Familie zu vergessen. Als Einzige in der Straße pflegte sie der Hausmeisterin zu helfen, die wichtigere Dinge zu besorgen hatte, als Essen einzukaufen oder aufzuräumen. Ihre Wohnung war mit allem erdenklichen Krempel vollgestopft und von ekelhaftem Tabakgeruch geschwängert.
    Einige Monate nach unserer Ankunft in Norwegen erhielten wir zu unserer Verwunderung einen Brief von Frau Lakatos. Es ist vielleicht unfein von mir, zu erwähnen, dass die Hausmeisterin zwar lesen und schreiben gelernt hatte, aber nicht viel mehr. Der Brief wimmelte von Rechtschreibfehlern und grammatischen Inkorrektheiten; er enthielt unbeholfene Wendungen und haarsträubende Beziehungsfehler, die zu einer Reihe unfreiwillig komischer Effekte im Text führten, über die wir hätten lachen können, wenn der Inhalt nicht so traurig gewesen wäre. Sie berichtete, dass Großmutter, kurz nachdem wir das Land verlassen hatten, nach einer gewissen Überredung Herrn Fernando bei sich habe einziehen lassen. Daran sei ja nichts Schändliches, unterstrich die Hausmeisterin, denn Frau Spinoza und Herr Fernando, das wüssten alle Menschen im ganzen Viertel, seien ja seit vor dem Ersten Weltkrieg verlobt gewesen und hätten sich das ganze Leben geliebt. Selten habe man ein Paar gesehen, das so gut zusammenpasste. Am Morgen stritten sie sich, dann aßen sie zu Mittag, hielten am Nachmittag eine Siesta, und kaum war die Sonne untergegangen, setzten sie ihre verliebte Kabbelei fort, bis sie ins Bett gingen, wo sie sich der Wiederbelebung alter Erinnerungen widmeten, bevor sie einschliefen. All dies hätte noch viele Jahre so weitergehen können. Aber eines Tages nach dem Mittagessen, schrieb die Hausmeisterin, habe Frau Spinoza Kartoffelsuppe mit Klößen für das Abendessen zubereitet. Etwas müsse dazwischengekommen sein, denn sie habe die Suppe auf dem Herd vergessen, und das Paar habe Siesta gehalten. Kurz nachdem sie eingeschlafen waren, sei die Suppe übergekocht und habe die Flamme gelöscht – aber das Gas sei weiter ausgeströmt. Erst viele Stunden später, am Abend, reagierten die Nachbarn auf den starken Gasgeruch aus der Wohnung. Man habe geklingelt und, als niemand geöffnet habe, die Polizei geholt.
    Die Tür wurde aufgebrochen. Das Gas wurde abgestellt und in allen Zimmern wurden die Fenster weit geöffnet. Im Schlafzimmer habe man das alte Paar gefunden. Sie lagen friedlich im Bett, eng umschlungen. Auf Herrn Fernandos Lippen, stellte die allwissende Hausmeisterin fest, habe man ein warmes Lächeln wahrnehmen können.
    Es ist klar, dass mein Großonkel lächelte. Er war glücklich, weil die Frau, die er mit einer wahnwitzigen Liebe liebte, die seine wurde, wenn schon nicht im Leben, so doch auf jeden Fall im Tod.

12.
DER KETTENRAUCHER

EIN NICHT EINGELÖSTES VERSPRECHEN
    Wie schon erwähnt, bat Mutter mich einige Minuten vor ihrem Tod, der Welt zu erzählen, dass die Nazis im Krieg brutal einen frommen Jüngling ermordet hätten, einen gewissen Lipot, der sich zusammen mit mehreren anderen jungen jüdischen Männern im Haus ihrer Eltern versteckt hatte. Sie wollte, dass ich die Frage stellte, wie Gott dies habe geschehen lassen können. Voller Scham darüber, Mutter vernachlässigt zu haben, und ergriffen vom Ernst des Augenblicks, nickte ich und versprach
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