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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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vor großen Maschinen hatte. Deshalb nahm ich mir vor, ihn mitzulocken zu der stillgelegten Textilfabrik und ihn dort in der großen Halle einzusperren, wo die alten rostigen Maschinen standen. Ein paar Tage zuvor hatten einige größere Jungen mich dorthin gelockt, mich einen Juden und Gotteslästerer genannt, einen Anhänger des Teufels, hatten mich verprügelt und zwei Stunden dort eingeschlossen. Doch das hatte ich niemandem in der Familie zu erzählen gewagt, denn ich wusste, dass es kräftig Schimpfe geben würde, vielleicht auch eine Bestrafung, weil ich überhaupt zu der Textilfabrik gegangen war, was Vater uns verboten hatte.
    Sasha ließ sich auf meinen Vorschlag ein, nach zurückgelassenem altem Werkzeug zu suchen, das wir dem Schrotthändler verkaufen konnten. Er hielt es für eine ausgezeichnete Idee, denn er sparte schon lange für ein Fahrrad, und ihm fehlten noch zweihundert Forint, um das gebrauchte Rad des Nachbarjungen zu kaufen. Ausgelassen machten wir uns auf den Weg zu der stillgelegten Fabrik. Um schneller hinzukommen, nahmen wir eine Abkürzung über die Bahngleise, die von hohen Zäunen umgeben waren. Es war streng verboten, sich auf diesem Gelände aufzuhalten, was unsere Begeisterung, als wir über den Zaun kletterten, nur noch steigerte. Ich schlug Sasha ein Spiel vor, wir sollten uns vorstellen, wir wären Monsieur Blondin – der französische Seiltänzer, der als Erster die Niagarafälle überquert hatte – und würden auf den Gleisen balancieren. Ich ging vor, wie um den Weg zu zeigen. Wir pfiffen und sangen und lachten fröhlich. Plötzlich war hinter mir ein Schrei zu hören. Er kam von Sasha. Aber ich nahm keine Notiz davon, sondern ging weiter. Sasha schrie, weil er die Balance verloren hatte. Um nicht zu fallen, hatte er den rechten Fuß auf den Boden gesetzt, aber genau in dem Augenblick sprang die Weiche um, sodass sein Fuß zwischen zwei Schienen, die zu einer Spur vereinigt werden sollten, wie in einem Schraubstock eingeklemmt war. Wie sehr er es auch versuchte, er bekam den Fuß nicht los. Er war fest eingeklemmt. Es muss fürchterlich weh getan haben. Er schrie wieder, noch lauter. Es klang verzweifelt. Ich drehte mich um und entdeckte, dass ein Zug in voller Fahrt auf uns zukam. Ich wurde von Panik ergriffen, der Atem stand mir still und ich war wie gelähmt. Sasha schrie und flehte um Hilfe. Ich war fünfzehn Meter entfernt und konnte mich nicht vom Fleck rühren. Es war, als wären meine Arme und Beine aus Blei. Jetzt bemerkte Sasha den Zug. Er schrie wieder. Es klang herzzerreißend. Das letzte, was ich hörte, war: »Ari, rette mich …« In der nächsten Sekunde ertrank seine Stimme im Pfeifen der Lokomotive. Der Zug wechselte automatisch auf das andere Gleis und rauschte an mir vorbei, nur wenige Zentimeter entfernt. Wie durch ein Wunder war ich unverletzt. Das einzige, was von meinem Zwillingsbruder übrig blieb, war sein abgeschnittener, zwischen den Schienen eingeklemmter rechter Fuß.
    Zu Hause sprachen wir nie über Sashas Tod. Mutter und Vater hatten nicht die Kraft dazu. Ich selbst konnte mich lange Zeit an nichts erinnern, was mit dem Unglück zu tun hatte, wahrscheinlich stand ich unter Schock. Das einzige, was ich merkte, war, dass mit meiner Stimme etwas passiert war. Ich versuchte zu sprechen, zu rufen, aber meine Zunge bewegte sich hilflos im Mund. Ich war außer mir vor Angst und versuchte mich selbst davon zu überzeugen, dass die Stimme zurückkehren würde. Aber nichts geschah. Sooft ich es auch versuchte.
    In unserer Straße lebte ein älterer Mann, von dem es hieß, er sei taubstumm geboren. Ich betrachtete ihn immer misstrauisch, denn er sah so sonderbar aus mit den seltsamen Zuckungen im Gesicht und mit den eifrigen Bewegungen, mit denen er die Stimme und die Wörter, die ihm fehlten, zu ersetzen versuchte. Ich beschloss, nie so zu werden wie er, und begann, das, was ich sagen wollte, auf kleine Zettel zu schreiben. Viele Jahre lang bemühte ich mich, mir eine schöne Handschrift anzugewöhnen, denn mein nervöses Gekritzel war unleserlich.
    Eines Morgens, viele Monate später, als ich eine Streichkäseecke aus dem Kühlschrank holte, die in Alufolie verpackt und mit einem winkenden Teddybären auf dem Etikett versehen war, hallten diese Worte in meinen Ohren wider: Lass uns gefährlich leben. Ich setzte mich an den Küchentisch, und plötzlich war die Erinnerung ganz klar. Das war ja das letzte, was ich zu Sasha gesagt hatte, als wir auf den
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