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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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ging nach Hause, voller Angst, brachte seine beiden kleinen Söhne, seine Frau und seine Mutter ums Leben und schoss sich selbst in die Schläfe. Kádár wurde zu Carlo geschickt. Er war aus dem gleichen Holz wie sein Freund Rajk. Obwohl Carlo ihm alle Nägel ausriss und ihn beinahe zu Tode prügelte, sagte Kádár kein Wort. Vielleicht hatte er nichts zu gestehen. Oder es lag daran, wie Großmutter es auszudrücken pflegte, dass Carlo zu fast gar nichts taugte.
QUÄLENDE TAGE
    Großvater wurde im Sommer 1951 verhaftet. Er wurde des Bestechungsversuchs an zwei Beamten des Gesundheitsministeriums angeklagt. Der Staatsanwalt legte weder Fakten noch Beweise vor. Die fraglichen Beamten, denen Großvater nie begegnet war und mit denen er nie etwas zu schaffen gehabt hatte, wurden nicht in den Zeugenstand gerufen. Der ganze Fall baute auf Hörensagen auf. Doch weil Großvater, dem Richter zufolge, nicht ohne jeden Zweifel seine Unschuld beweisen konnte, wurde er zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Auch in jenen Tagen wurde dies als ungewöhnlich strenges Urteil angesehen. Großvater brauchte jedoch nur sechs von diesen elf Jahren hinter Schloss und Riegel zu verbringen. Im August 1957 erließ János Kádár eine persönliche Amnestie für ihn. Das war die Art und Weise des neuen Parteiführers und Diktators, einem alten Parteifreund einen respektvollen Gruß zu senden.
    Mutter und Vater nahmen sich Großmutters und Großvaters an, auf jeden Fall versorgten sie die beiden und ließen sie bei uns wohnen. In ihrer Jugend hatten meine Eltern und Großeltern vermutlich die uralte jüdische Fähigkeit besessen, zu scherzen und das Dasein mit Leichtigkeit und Abstand zu betrachten. Aber das Leben ließ sie mit der Zeit düster werden. Es fällt mir schwer, das Bild eines warmen und glücklichen Elternhauses zu zeichnen. Zwar brachte mein Großonkel Heiterkeit, Erzählfreude und Stolz über unsere Familiengeschichte in Sashas und mein Leben. Aber das war kein vollwertiger Ersatz für die Liebe, die mir, so wie ich es erlebte, nie zuteilwurde.
    Sasha war Mutters und Vaters Augenstern. Mich nannte Mutter oft ein Ratkókind. Ich stellte mir vor, dass es etwas Feines war, und es schmeichelte mir, dass sie es von meinem Bruder nie sagte. Aber ich irrte mich. Kürzlich habe ich erfahren, dass Anna Ratkó in den Jahren 1950 bis 1953 Gesundheitsministerin war und dass ihre erste Amtshandlung darin bestand, in Ungarn die Abtreibung zu verbieten. Ich war also eins von den unerwünschten Kindern, die in ihrer Amtszeit geboren wurden.
    Quälende Vormittage, quälende Tage. Am schlimmsten ist vielleicht diese Müdigkeit, von der mich nur der Tod befreien wird. Doch ich muss meine letzten Kräfte sammeln und weitererzählen, bevor sich das endgültige Schweigen über mich senkt. Erzählen, weitererzählen, um das Schweigen auf Abstand zu halten, denn wenn ich aufhöre, die Gedanken in Worte zu kleiden, werden die Erinnerungen in meiner Seele verdorren wie eine Pflanze in der Wüste, und unsere Welt verschwindet unbemerkt.
LASS UNS GEFÄHRLICH LEBEN
    Ich kann nie vergessen, was an jenem Donnerstag geschah. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag, schon gegen neun Uhr war das blaue Quecksilber im Thermometer vor dem Küchenfenster über den Strich gestiegen, der dreißig Grad anzeigte. Der Morgen wurde durch einen Streit zwischen Sasha und mir verdorben. Wir zankten uns darum, wer die letzte Streichkäseecke bekommen sollte, die noch im Kühlschrank lag. Wir liebten beide diese dreieckigen Käsestücke, die in Aluminiumfolie verpackt waren und einen winkenden Teddy auf dem Etikett hatten. Sasha gewann. Er packte mich von hinten um den Hals, als ich auf dem Weg zum Kühlschrank war, und hielt mich in einem festen Klammergriff. Weil es weh tat und ich keine Luft bekam, war ich gezwungen, meine Niederlage schnell zu akzeptieren. Untertänig musste ich zugeben, dass er der Stärkere war und den Käse verdiente. Sasha öffnete die Kühlschranktür und erklärte in abschätzigem Ton, ich sei ein geborener Verlierer. Während des Frühstücks sagte keiner von uns ein Wort. Sasha glotzte mich überlegen an, und ich wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Der physische Schmerz wurde noch durch ein Gefühl von Trostlosigkeit und Verlassenheit verstärkt. Nach dem Frühstück ging ich ins Schlafzimmer und explodierte in einem Weinanfall.
    Als ich mich beruhigt hatte, gab es nur einen Gedanken in meinem Kopf: Rache. Alle in der Familie wussten, dass Sasha Angst
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