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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit
Autoren: Gabi Gleichmann
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das Volk des Buches. Unser Leben ist aus Wörtern hervorgegangen. So gesehen wäre es nicht unverständlich, wenn die Erwachsenen in unserer Familie in der Vorstellung gelebt hätten, dass man etwas, das es im Schweigen nicht gibt, eine Existenz verleiht, indem man darüber redet. Obwohl es wahrscheinlicher ist, dass sie nur ihre schlimmen Erinnerungen vergessen wollten. Doch die Erinnerungen ließen sich nicht verjagen. Diese Menschen lebten in ständigen Albträumen, die sich manchmal in Schreie verwandelten und uns in der Nacht weckten.
    Einmal erzählte Großmutter, nicht ohne Wärme – was uns wunderte, weil sie sonst nie in herzlichem Ton über Großvater sprach –, dass er nach der Rückkehr aus Moskau der Held des Stadtteils gewesen sei. Alle in den Arbeitervierteln wussten, wer er war. Man sah zu ihm auf wie zu einem Gott. Das war bemerkenswert, denn in diesem Teil Budapests waren Juden schlecht gelitten. Die einen hassten sie, denn sie stellten sich vor, alle Juden seien reich wie ein Krösus. Andere waren sicher, dass die Juden an Freitagen Christi Blut tranken. Manche meinten, sie blieben unter sich und seien keine richtigen Ungarn. Die Mehrzahl wurde von kulturellen Minderwertigkeitsgefühlen und Neid getrieben und verachtete die Juden, weil man glaubte – was ja der Wahrheit keineswegs entsprach, wie Großmutter hinzufügte –, sie seien extrem begabt und ihnen gelinge alles, was sie unternähmen.
    Sie lächelte, als sie konstatierte: »Es war in diesem Teil von Budapest ein Volkssport, jüdische Nachbarn bei der Polizei anzuzeigen, einen Sonntagsspaziergang ans Donauufer zu machen und bei der unterhaltsamen Vorstellung zuzusehen, wie ganze Familien mit Genickschüssen ermordet wurden und in den Fluten des Flusses verschwanden. Am Montagmorgen erhob man dann Anspruch auf ihre verwaisten Wohnungen. Aber uns behandelten unsere Nachbarn anders. Die Leute versteckten und beschützten uns, obwohl es lebensgefährlich war. Die Gestapo suchte nach Großvater. Sie wollten ihn unbedingt schnappen, nicht weil er Jude war, sondern aus anderen Gründen.«
    In der Kindheit begegnen einem so viele Zeichen, die man nicht deuten kann. Erst jetzt sehe ich klar, wofür die Wörter »aus anderen Gründen« stehen. Unsere Familie lebte in einem System. Es war ein unausgesprochenes, ein wenig mysteriöses, sehr geheimes System, das für Außenstehende unbegreiflich war. Letzten Endes beruhte es auf einer Absprache mit Gott, dem Schöpfer des Weltalls, dessen Augen wir nie geschaut und dessen Lippen wir nie haben Worte formen sehen. Es war ein strenges System. Kein Spinoza hat jemals darüber gesprochen. Das war uns verboten. Aber unser Schweigen war durchtränkt vom Glauben an ein ewiges Leben, an die Heiligkeit des Menschenlebens, daran, dass Gott einen großen Plan hatte, in dem wir eine wichtige Rolle spielten, und dass der Allmächtige sich verbergen und unsichtbar bleiben konnte, weil wir Menschen sein Antlitz auf Erden sind. Es war dieses System, das Hitler vernichten wollte, und deshalb war Adi darauf aus,
Das Elixier der Unsterblichkeit
in seinen Besitz zu bringen.
TANTE ILONA
    Ein anderes Mal erzählte Großmutter, es war kurz nach Tante Ilonas Tod, sie wisse, wer ihr Versteck verraten habe. Vater und Onkel Carlo waren als Arbeitssoldaten eingezogen. Die übrigen in der Familie – Großmutter und ihre Mutter Mirjam, Großvater und Tante Ilona – waren gezwungen, sich jede Nacht ein anderes Versteck an verschiedenen Adressen zu suchen. Weil die Leute selten die Möglichkeit hatten, mehr als zwei Übernachtungsgäste bei sich zu beherbergen, mussten sie sich aufteilen. Eines Nachts, im Dezember 1944, wurde Großvater eine sichere Adresse in der Rottenbiller Straße 19 angeboten. Eigentlich war er an der Reihe, sich um Mirjam zu kümmern. Aber er hatte keine Lust, die Zeit mit der alten Frau zu verbringen. Deshalb überredete er seine Tochter, mit ihm zu tauschen. Um drei Uhr in der Nacht hielt ein dunkler Lastwagen auf der schlecht beleuchteten Straße. Ein paar schwarz gekleidete SS-Männer, kräftige Kerle mit einem Totenkopf und überkreuzten Knochen auf den Ärmeln, klingelten bei Antal Gyurkovics an, einem einfachen Schweißer, Mitglied in der untergetauchten kommunistischen Partei. Er öffnete die Tür und wurde auf der Stelle erschossen. Danach wurden die Frauen herausgeholt und abgeführt, ganz undramatisch.
    Mirjam und Ilona landeten in Auschwitz. Bei der Selektion auf dem Bahnsteig wurden Alte nach
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