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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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seien anstrengend für ihn, hieß es.
    Ich lieferte den Jungen jeden Morgen um Viertel nach acht dort ab. Ich holte ihn nie vor fünf. Aber ich kam auch nie zu spät.
    Ich bekam einen Kindergartenplatz und überlebte.

    Olav hatte Heimweh. Es schien in seinem Körper zu bohren, und er hatte so ein Gefühl noch nie erlebt. Er war aber auch noch nie so lange von zu Hause fortgewesen. Er versuchte, das Loch in seinem Bauch kleiner zu machen, indem er schnell und kurz atmete, aber davon wurde ihm nur schwindlig, und er bekam richtiges Bauchweh. Also versuchte er, tief
    durchzuatmen, aber dann war das Bohren wieder da, das böse Gefühl kam zurück. Er hätte weinen mögen.
    Er wußte nicht, ob er sich nach seiner Mutter sehnte oder nach der Wohnung oder nach seinem Bett oder nach seinem Spielzeug. Er dachte auch nicht darüber nach. Alles war einfach nur eine einzige riesengroße Sehnsucht.
    Er wollte nach Hause. Aber das durfte er nicht. Erst nach zwei Monaten im Heim durfte er auf Besuch nach Hause, hatten sie ihm gesagt. Seine Mutter besuchte ihn zweimal die Woche. Als ob sie hier im Kinderheim etwas zu suchen gehabt hätte. Er sah, 27
    daß die anderen Kinder sie anstarrten und daß die Zwillinge immer lachten, wenn sie auftauchte. Kenneth war der einzige, der mit ihr redete, der Arme hatte ja selber keine Mutter, und da war er sicher ein bißchen neidisch. Eine häßliche und scheußliche Mama war irgendwie immer noch besser als keine.
    Sie durfte zwei Stunden dableiben. Die erste Stunde war kein Problem. Sie redeten ein bißchen oder gingen einmal um den Block. Zweimal waren sie in ein Café gegangen und hatten Kuchen gegessen. Aber das Café war ziemlich weit weg, und der Weg hatte fast alle ihre Zeit verschlungen. Das eine Mal waren sie eine halbe Stunde zu spät gekommen, und Agnes hatte seine Mutter ausgeschimpft. Olav hatte gesehen, wie traurig die wurde, auch wenn sie nichts sagte. Deshalb hatte er den Garderobenhaken zerbrochen, und dann war Agnes auf ihn böse gewesen.
    Nach der ersten Stunde wußten sie meistens nicht mehr so recht, was sie machen sollten. Agnes hatte vorgeschlagen, seine Mutter könne ihm doch bei den Schulaufgaben helfen. Aber das hatte sie noch nie getan, und er wollte es auch nicht. Deshalb blieben sie einfach in seinem Zimmer sitzen, ohne besonders viel zu sagen.
    Er hatte so schreckliches Heimweh.
    Er hatte Hunger.
    Er hatte immer, immer Hunger. Hier im Kinderheim war der Hunger nur noch schlimmer geworden. Er bekam einfach nicht genug zu essen. Am Vortag hatte er eine dritte Portion Frikadellen mit sehr viel Soße haben wollen. Die hatte Agnes ihm verweigert, obwohl noch genug übrig gewesen war.
    Kenneth hatte ihm seine Portion geben wollen, aber gerade als Olav sie auf seinen Teller schob, hatte Agnes ihm den Teller weggenommen und ihm statt dessen einen Apfel gegeben. Olav wollte aber keinen Apfel, er wollte Frikadellen.
    Er hatte einen verdammten Hunger.
    28
    Im Moment waren die anderen Kinder nicht da. Es war jedenfalls ziemlich still in dem großen Haus. In der Schule war ein Besprechungstag, deshalb war die Feuerübung sicher für heute angesetzt gewesen. Er stand vom Bett auf und schüttelte sein eingeschlafenes Bein. Es prickelte und piekste, und obwohl es weh tat, kitzelte es auch ein wenig.
    Das Bein hätte fast unter ihm nachgegeben, als er auftrat, und er humpelte zur Treppe hinüber. Von unten konnte er Stimmen hören, aber das waren sicher die Erwachsenen. Er stapfte ans Fenster hinten im Flur und sah Kenneth und die Zwillinge den Hang zur Straße hinunterrodeln. Das war ein Hang für Schlaffis.
    Viel zu kurz, und außerdem mußte man bremsen, um nicht gegen den Zaun zu prallen. Wo die großen Kinder steckten, wußte er nicht. Aber die durften eigentlich fast alles. Gestern war Raymond sogar bei McDonald’s gewesen. Mit seiner Freundin. Er hatte Olav eine kleine Figur mitgebracht. Olav, der sie total kindisch fand, hatte sie an Kenneth weitergereicht.
    Er versuchte, die Treppe hinunterzuschleichen, aber die Stufen knackten. Dann fiel ihm ein, daß sie nicht knacken würden, wenn er die Füße ganz am Rand aufsetzte. Lautlos gelangte er fast bis ganz nach unten.
    »Hallo, Olav!«
    Er zuckte heftig zusammen. Es war Maren.
    »Du bist im Haus? Die anderen sind doch alle draußen!«
    »Keinen Bock. Ich will fernsehen.«
    »So früh am Tag ist das aber nicht erlaubt, und das weißt du.
    Du mußt dir schon eine andere Beschäftigung suchen.«
    Sie lächelte ihn an. Sie war
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