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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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was die Mutter angeht, die ist einfach verzweifelt.«
    »Übertreiben? Ist es nicht ziemlich stark, daß er mir ins Auge tritt, droht, mich umzubringen und am Ende sogar die Zeichnungen aller anderen Kinder in Fetzen reißt?«
    »Solange er sich nur über dich und die Zeichnungen hermacht, sollten wir ganz ruhig bleiben«, sagte Agnes, ohne den dramatischen Zwischenfall vom Vormittag auch nur zu erwähnen. Sie deutete an, daß die Besprechung beendet sei, indem sie ihre Unterlagen zusammenpackte. Als die anderen jedoch scharrend ihre Stühle zurückschoben und aufstanden, hob sie noch einmal wie zu einer Korrektur die Hand und fügte hinzu: »Ich würde gern mit jedem von euch unter vier Augen sprechen«, sagte sie. »Eine Art Kollegenberatung.«
    »Kollegenberatung?«
    Cathrine machte darauf aufmerksam, daß eine solche Beratung nicht angekündigt worden und eigentlich auch erst in zwei Monaten fällig sei.
    »Wir machen es jetzt. Es dauert nicht lange. Terje, du bitte als erster. Wir gehen in mein Büro.«
    Maren Kalsvik. die praktisch, wenn auch nicht offiziell, als eine Art stellvertretende Heimleiterin fungierte, musterte ihre Chefin nachdenklich. Agnes wirkte müde. Ihre Haare waren 35
    stumpf, und ihr sonst so glattes, rundes Gesicht war viel schärfer gezeichnet. Unter den Augen lagen wenig kleidsame bläuliche Schatten, und zeitweise schien sie an den Kindern keinerlei Interesse mehr zu haben. Es hing bestimmt mit ihrer Ehe zusammen. Maren und Agnes waren nicht direkt Freundinnen, aber sie arbeiteten schließlich zusammen und unterhielten sich ab und zu über Gott und die Welt. Seit einigen Monaten kriselte es in Agnes’ Ehe, das wußte Maren. Und vielleicht handelte es sich um eine ernstere Krise, als Agnes zugeben mochte. Die haarsträubende Strafe fur Olavs Wutanfall zeigte ja schon, daß hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Gleich bei der Besprechung wollte sie sich diskret erkundigen. Und sie mußte die Strafe umwandeln. Schwer würde das sicher nicht. Es war nicht nur pädagogisch unklug, den Kindern das Zusammensein mit ihren Eltern zu verbieten, es war außerdem nicht erlaubt.
    »Kann ich als zweite an die Reihe kommen?« fragte sie.
    »Ich muß nachher zum Zahnarzt.«
    Agnes konnte ihre Beratungen mit den einzelnen Kollegen erst nach fast vier Stunden beenden. Und dabei hatten die letzten nur zehn Minuten gedauert.

    Das Haus schien zu atmen. Tief und gleichmäßig. Eine sichere, feste Burg für die acht schlafenden Kinder.
    Jedenfalls geben sie Ruhe, dachte Eirik zufrieden und schaltete den Fernseher aus.
    Es war schon eine halbe Stunde nach Mitternacht, aber müde war er nicht. Das wunderte ihn. Ob er vielleicht geschlafen hatte, ohne es bemerkt zu haben? Er schnappte sich die Karten und legte eine Patience. Das war für ihn das pure Schlafmittel.
    Einige gepfuschte Runden lieferten ihm die nötige Bettschwere.
    Also konnte er sich auch gleich in das bereits gemachte Bett im ersten Stock legen. Auf dem Weg nach oben fiel ihm ein. daß Agnes noch nicht nach Hause gegangen war. Er hatte es 36
    jedenfalls nicht mitbekommen, und sie hätte doch bestimmt kurz in den Fernsehraum geschaut und ihm eine gute Nacht gewünscht. Er konnte ohnehin nicht begreifen, warum sie an diesem Abend, so gegen zehn, noch einmal gekommen war. Sie hatten den ganzen Papierkram doch im Griff, das hatte sich am Morgen bei der Besprechung herausgestellt. Und nun war sie schon wieder so lange hier. Noch einmal sah er auf die Uhr. Fast eins. Mit vorsichtigen Schritten ging er im ersten Stock nach links und öffnete behutsam die Tür zum Schlafzimmer der Zwillinge. Beide lagen in Kim-Andrés Bett. Sie sahen aus wie Engelchen, wie sie sich so umarmten und mit ihren kleinen Mündern leise und gleichmäßig atmeten. Vorsichtig hob Eirik Roy-Morgan hoch und trug ihn in dessen eigenes Bett. Der Junge murmelte einen schlaftrunkenen Protest, dann drehte er sich auf den Bauch, seufzte und schlief weiter. Wie immer hatten die Jungen das Licht angelassen, Eirik ließ es brennen und setzte seine Runde fort.
    Alle schliefen. Raymond schnarchte. Mit offenem Mund und leicht zurückgebogenem Kopf lag er auf dem Rücken; ein Arm und ein Bein hingen zur Hälfte aus dem schmalen Bett heraus.
    Die Decke lag auf dem Boden. Eirik hob sie hoch, brachte Arm und Bein des Jungen im Bett unter, ohne daß dieser sich davon stören ließ, und stopfte die Decke zwischen Matratze und Bettkasten fest, damit sie nicht wieder hinunterrutschen konnte.
    Er
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