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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind
Autoren: Anne Holt
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knallte die Tür hinter sich ins Schloß und war verschwunden.
    »Mama!« rief der Junge und versuchte sich loszureißen.
    »Mama!«
    Dann biß er sich ganz bewußt so fest auf die Zunge, daß das Blut nur so herausquoll. Aber er weinte nicht.
    »Mama«, murmelte er, während ihm das Blut aus dem Mund schoß.
    32
    Maren, die hinter ihm stand, merkte, daß der Junge keinen Widerstand mehr leistete. Langsam ließ sie ihn los und führte ihn zu einem Stuhl. Und dann sah sie das Blut.
    »Herrgott, Olav«, sagte sie entsetzt und griff nach einer Rolle Küchenpapier.
    Das erste Stück Papier war bald von Blut durchtränkt, und sie verbrauchte fast die ganze Rolle, bis sie den Schaden endlich genauer betrachten konnte. Olav hätte sich um ein Haar ein Stück Zunge abgebissen.
    »Aber Olav«, sagte Maren verzweifelt und drückte das Küchenpapier wieder auf die Wunde.
    Sie wußte, daß es nicht mehr viel zu sagen gab. Höchstens noch eins: »Merk dir das, Olav, wenn alles schwer und übel ist und alle gemein zu dir sind, dann mußt du zu mir kommen. Ich kann dir immer helfen. Wenn du vorhin nicht so böse geworden wärst, hätten wir zusammen alles wieder in Ordnung bringen können. Kannst du nicht versuchen, beim nächsten Mal daran zu denken? Daß ich dir immer helfen kann?«
    Sie war nicht ganz sicher, glaubte aber, daß der Junge nickte.
    Dann stand sie auf und rief den Hausarzt an.
    Der stellte fest, daß die Zunge mit drei Stichen genäht werden mußte.

    Nur einer der vierzehn Angestellten fehlte. Agnes leitete die Besprechung. Die Dienstpläne für die nächsten beiden Monate standen fest, auch wenn es einige Zeit gedauert hatte, Marens Vorschläge teilweise noch zu ändern. Als nächstes nahmen sie sich jedes Kind einzeln vor.
    »Raymond kann an diesem Kurs teilnehmen«, sagte Terje. »Er fängt nächste Woche an, dann hat er pro Woche drei Tage Schule und zwei Tage Praxis Motorradreparatur. Er freut sich schon sehr.«
    33
    Mit Raymond gab es keine Probleme. Er war mit neun Jahren ins Haus Frühlingssonne gekommen und bis zu seinem zehnten Geburtstag ein harter Brocken geblieben. Danach hatte er die Schultern sinken lassen, tief durchgeatmet und sich damit abgefunden, daß er seine Mutter nur an den Wochenenden besuchen durfte. Die Mutter war phantastisch. Sie hatte alle Eigenschaften, die man sich bei einer Mutter wünscht, sie war fürsorglich, anregend, beschützend und liebevoll. In nüchternem Zustand. Während der ersten fünf Lebensjahre des Jungen war alles gutgegangen, dann fing es wieder an. Mit sieben wurde Raymond in eine Pflegefamilie gegeben. Das ging überhaupt nicht. Er hing so sehr an seiner Mutter, daß niemand sonst diese Rolle übernehmen konnte. Nachdem er drei Garnituren Pflegeeltern verbraucht hatte, ohne daß seine Mutter sich von der Flasche trennen konnte, war er ins Haus Frühlingssonne verlegt worden. Von da an hatte sich die Lage gebessert. Die Mutter war von Freitagmorgen an trocken und machte die nächste Flasche erst auf, wenn Raymond am Sonntagabend aus dem Haus war. Dann trank sie sich durch die Woche, um Kraft für weitere achtundvierzig nüchterne Stunden zu sammeln. Aber sie war unbestreitbar Raymonds Mutter. Und mit Raymond gab es keine Probleme. Auch an den übrigen Heimkindern gab es nicht viel auszusetzen. Abgesehen von Olav.
    »Mit dem werden wir noch unsere Schwierigkeiten haben«, seufzte Cathrine, eine magersüchtige Erzieherin von etwa dreißig. »Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann habe ich direkt Angst vor dem Jungen. Ich hab doch keine Chance, wenn er sich quer legt.«
    »Dann iß ein bißchen mehr«, schlug Terje vor, aber niemand achtete auf ihn.
    »Als seine Mutter am Dienstag gehen wollte, hat er sich ziemlich angestellt«, sagte Eirik, der gerade Dienst gehabt hatte.
    »Er klammerte sich an ihrem Bein fest, und sie stand einfach nur stocksteif da und starrte mich an; sie hat nicht einmal den 34
    Versuch gemacht, den Jungen zur Vernunft zu bringen. Und als ich mich bückte, um seine Hände loszumachen, hat er mir das hier verpaßt.«
    Er beugte sich über den Tisch und legte den Kopf schräg. Alle konnten den blaugelben Ring um das linke Auge sehen.
    »Der Junge ist ganz einfach gefährlich. Und was von der Mutter zu halten ist, läßt sich wirklich nicht so leicht sagen.«
    »Die anderen Kinder läßt er aber in Frieden«, wandte Maren ein. »Da kann er sogar hilfsbereit sein. Wenn er will, kann er sich auch gut benehmen. Wir dürfen nicht übertreiben. Und
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