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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Autoren: Walter Kempowski
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Fotografen und Kameramänner geraten aus dem Häuschen. Sie springen auf die Tische, pressen ihre Bäuche gegen die Schultern der Generale und knipsen, knipsen, knipsen ...
    Einer unserer Kameraleute streift mit seinem Apparat einen amerikanischen Admiral am Kopf. Der Admiral, der die Hektik der Berichterstatter offenbar gewohnt ist, lacht gutmütig und winkt ab: «Okay!» Unsere Ordner aber, denen diese Atmosphäre unbekannt ist, würden den armen Kerl am liebsten vor die Tür setzen.
    Die Leute am zentralen Tisch benehmen sich sehr unterschiedlich. Spaatz verzieht keine Miene. Wyschinski ist übereifrig.
    Shukow strahlt. Tedder, der neben ihm sitzt, hat ein leichtes Lächeln auf dem angenehmen, jedoch ausdruckslosen Gesicht. Über den Dolmetscher sagt er etwas zu Shukow, und ich glaube, daß er von allen Anwesenden der einzige ist, der sich eine Portion Ironie für die bevorstehende feierliche Prozedur aufgehoben hat. Lattre de Tassigny scheint bekümmert darüber, daß er später als die anderen eingetroffen ist, und darauf bedacht zu sein, daß recht bald zur Tagesordnung übergegangen wird. Ich sehe Shukow, sein schönes, starkes Gesicht, und mir fällt ein, wie ich ihm während der Kämpfe mit den Japanern am Chalchyn gol begegnet bin, als er noch Korpskommandeur war und in der Mongolei unsere Armeegruppe führte. [...] Seitdem sind sechs Jahre vergangen, in der Zwischenzeit bin ich Shukow nicht begegnet, und damals hätte ich es mir nicht träumen lassen, daß unser nächstes Zusammentreffen in Berlin und vor der Entgegennahme der Kapitulation der deutschen Armee stattfinden würde.
    Als im Saal Ruhe eingetreten ist, steht Shukow auf und erklärt die Sitzung zur Entgegennahme der Kapitulation der deutschen Armee für eröffnet. Dann wird über die Vollmachten gesprochen und festgestellt, wer von welcher Regierung bevollmächtigt wurde, und die Dokumente werden in den einzelnen Sprachen verlesen. Darüber vergehen zehn Minuten.
    Shukow steht wieder auf, wendet sich den Offizieren am Eingang zu und sagt trocken: «Führen Sie die deutsche Delegation herein.»
    Die Tür wird geöffnet, und Keitel, Friedeburg und Stumpff treten ein. Ihnen folgen einige Offiziere, vermutlich Adjutanten. Keitel braucht nur drei Schritte zu machen, um an seinen Tisch zu gelangen. Er geht dorthin, bleibt hinter dem mittleren Sessel stehen, streckt die Hand mit dem kurzen Marschallstab aus, vollführt eine flinke Bewegung vorwärtsund rückwärts, die mich an Hantelgymnastik erinnert. Er rückt den Sessel ab, setzt sich und legt den Marschallstab vor sich nieder.
    Shukow steht auf und sagt etwas, aber es ist nicht zu verstehen, was. Es wird den Deutschen übersetzt. Keitel neigt zustimmend den Kopf. Weitere Einzelheiten der Prozedur folgen.
    Ich beobachte Keitel. Er hat die behandschuhten Hände auf den Tisch gelegt, Stumpff erscheint absolut ruhig. Friedeburg ist erstarrt, aber hinter seiner Reglosigkeit verbirgt sich grenzenlose Niedergeschlagenheit.
    Auch Keitel sitzt anfangs reglos da, blickt vor sich hin, dann dreht er ein wenig den Kopf und sieht Shukow aufmerksam an, richtet den Blick wieder vor sich auf den Tisch und erneut zu Shukow hin. Das wiederholt sich einige Male, und obgleich der Ausdruck hier äußerst unangebracht ist, täusche ich mich nicht, wenn ich meine, daß er Shukow neugierig mustert. Keinen anderen als Shukow, und in der Tat neugierig, als sehe er einen Menschen, der ihn schon lange interessiert und der jetzt nur zehn Schritte entfernt vor ihm sitzt.
    Am zentralen Tisch beginnt die Unterzeichnung des Dokuments. Ihre Unterschrift leisten Shukow, Tedder, Spaatz, als letzter Lattre de Tassigny.
    Während sie unterschreiben, verändert sich Keitels Gesicht schrecklich. In Erwartung der Sekunde, da er an der Reihe ist, zur Feder zu greifen, sitzt er steif und starr da. Der große Offizier, der in strammer Haltung, die Hände an der Hosennaht, hinter seinem Sessel steht, weint, ohne daß sich in seinem Gesicht ein Muskel regt. Keitel sitzt gerade da, dann streckt er die Hände aus und ballt sie auf dem Tisch zu Fäusten. Den Kopf legt er immer weiter zurück, als wollte er die Tränen, die unter den Lidern hervorzubrechen drohen, nach hinten drängen.
    Shukow steht auf und sagt: «Der deutschen Delegation wird vorgeschlagen, die Urkunde über die bedingungslose Kapitulation zu unterschreib en.»
    Der Dolmetscher übersetzt die Aufforderung ins Deutsche, und Keitel, der den Sinn der Worte schon erfaßt hat, ehe
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