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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Autoren: Walter Kempowski
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mit der Ehrenwache vor dem Eintreffen der Verbündeten. Er übt lange und fleißig: Im Krieg haben die Soldaten diese Dinge verlernt. Wir sitzen im Gras und langweilen uns. Endlich kommt der Stellvertreter des Oberbefehlshabers, Sokolowski, in Begleitung einiger Generale. Einen von ihnen kenne ich. Ich bin ihm in Italien begegnet. Damals wurde noch im Gebiet von Florenz gekämpft. Wie lange scheint das zurückzuliegen? Das erste Flugzeug landet! Heraus tritt Wy schinski, begleitet von einigen unserer Diplomaten. Sie steigen sofort in ein Auto und fahren ab. Anderthalb Stunden später setzt noch ein Flugzeug auf. Gestern erwarteten wir, daß Eisenhower kommen werde, und erst hier, auf dem Flugplatz, als nicht Shukow, sondern Sokolowski eintraf, sagten wir uns, statt Eisenhower werde ein anderer kommen. Nun sind der britische Luftmarschall und Stellvertretende Oberbefehlshaber der alliierten Expeditionsstreitkräfte in Europa, Arthur W. Tedder, und der Oberbefehlshaber der strategischen Luftstreitkräfte in Europa, der amerikanische General Carl A. Spaatz, eingetroffen. Spaatz ist mittelgroß, wohlgenährt, quadratisch gebaut, Tedder hager, jugendlich, von unbestimmbarem Alter, behende, beweglich, und er lächelt häufig und etwas gezwungen. Sie und Sokolowski begrüßen sich. Die Soldaten präsentieren das Gewehr, die Kapelle intoniert drei Hymnen, die Verbündeten und Sokolowski schreiten die Ehrenwache ab.
    Inzwischen landet ein weiteres Flugzeug, das die Deutschen Wilhelm Keitel, Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff bringt. In ihrem Gefolge befinden sich einige deutsche Offiziere. Die Ehrenwache, die zum Empfang der Verbündetenangetreten ist, steht zwischen dem Flugzeug, mit dem die Deutschen gekommen sind, und den Wagen am Ende des Flugplatzes, zu denen die Deutschen gehen müssen. Sobald die Deutschen das Flugzeug verlassen haben, treten einige sowjetische Offiziere an sie heran, und während die Verbündeten die Ehrenformation abschreiten, werden auf der anderen Seite die Deutschen zu den Wagen geführt. Voran schreitet Keitel im langen Mantel, mit großer, hoher Generalsmütze, deren Teller gebogen ist. Er vermeidet es bewußt, nach links oder rechts zu sehen, geht mit großen, ausholenden Schritten.
    Wir folgen den Deutschen durch Berlin. Als ich die vorbeihuschenden Ruinen sehe, die einsamen Gestalten der Einwohner, denke ich, daß man sich schwerlich ein bedrückenderes Bild vorstellen kann als jenes, das sich den zur Unterzeichnung der Kapitulation fahrenden deutschen Generalen bietet.
    Karlshorst. Als erstes besichtigen wir den Festsaal der Ingenieurschule. Hier soll die Unterzeichnung erfolgen. Der Saal ist nicht sehr groß. Zweihundert Quadratmeter. An der Stirnseite schmücken Flaggen die Wand: die sowjetische, die amerikanische, die britische und die französische. Der Oberbefehlshaber der 1. französischen Armee, Jean de Lattre de Tassigny, heißt es, sei ebenfalls gekommen oder treffe noch ein. Unter den Flaggen steht ein langer Tisch, der fast die ganze Breite der Wand einnimmt. Dort werden die Vertreter des alliierten Kommandos Platz nehmen. Senkrecht dazu stehen hintereinander noch drei Tische, zwei lange und ein kurzer. Der kurze ist für die deutsche Delegation gedacht, der mittlere für die sowjetischen und die verbündeten Generale und Offiziere, die der Kapitulation beiwohnen werden. Der letzte Tisch schließlich steht den Korrespondenten zur Verfügung.
    Fast eine Stunde halten wir uns in der Ingenieurschule auf. Alles verzögert sich, weil die sowjetischen und die verbündeten Vertreter noch über einige Verfahrensweisen verhandeln. Die Kapitulation, die ursprünglich für 2 Uhr angesetzt war, beginnt erst am Abend. Endlich betreten Shukow und Telegin den Saal, und mit ihnen kommen Wy schinski, Tedder, Spaatz und Lattre de Tassigny, den ich das erstemal sehe. Er ist ein noch junger General, etwa fünfundvierzig.
    Die Korrespondenten und Militärpersonen, die bei der Kapitulation zugegen sein sollen, eilen auf die noch freien Plätze zu. Ein Offizier, der als Ordner eingesetzt ist, tritt an sie heran und flüstert ihnen hastig etwas zu. Unsere Generale an dem Tisch, der für die kapitulierenden Deutschen vorgesehen ist, springen wie von der Tarantel gestochen auf und setzen sich um.
    Shukow lächelt. Tedder lächelt. Lattre de Tassigny lächelt. Sie lächeln sich und dem nicht lächelnden Spaatz zu und nehmen an ihrem Tisch die Plätze ein. Die
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