Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dunkle

Das Dunkle

Titel: Das Dunkle
Autoren: Scott Westerfeld
Vom Netzwerk:
sechsunddreißig Grad Nord und sechsundneunzig Grad West lag ein paar Meilen vor der Stadt, abgelegen am Grund der Schlangengrube. Diese beiden Zahlen steckten voller Zwölfen.
    Das musste etwas zu bedeuten haben; die Schlangengrube, die wie eine große Spinne im Netz mitten in den Badlands saß, war eine Quelle für Rex’ Lehre und ein Hauptattraktionspunkt für Darklinge.
    Eine Sache war Dess unzweifelhaft klar geworden: Die Geometrie der blauen Zeit war wesentlich komplizierter als jedes Spinnennetz. Es gab Asymmetrien an der Art, wie die geheime Stunde entstand, und das Muster, in dem sich die Linien über den festen Wüstenboden bis nach Bixby hinein spannten, war tückisch. Melissa klagte gelegentlich, dass sie beim Gedankenlesen Unterschiede spürte, die Eindrücke an verschiedenen Standorten stärker oder schwächer wurden, wie der Radioempfang im Auto während einer Fahrt durch die Berge. Und nachdem Dess jetzt Rex’ kostbare Lehrstätten aufgezeichnet hatte, trat auch hier ein Muster zum Vorschein.
    Und dann waren da auch noch die Leute, die verschwanden, wie Sheriff Michaels vor zwei Jahren. Darklinge schienen sich aus Starren nichts zu machen, aber irgendwas mussten sie fressen. Rex behauptete, es gäbe besondere Orte, wo die Grenze zwischen der normalen und der erstarrten Zeit fließend wäre. Das war der eigentliche Grund für Bixbys berühmte Sperrstunde. Wenn ein normaler Mensch – oder eine arme Kuh oder ein Kaninchen – in der Nähe einer solchen Stelle erstarrte, konnte es passieren, dass er über die Grenze gesogen wurde und unerwartet in der Nahrungskette endete.
    All das konnte nur eins bedeuten: Mitternacht hatte ein Muster, rissig und mit groben Flecken. Vielleicht gab es Orte, an denen Dess’ Zahlenmagie stärker oder schwächer wurde oder Jessicas Flammen voll aufdrehten oder wo die Darklinge nicht hinkamen. Vielleicht gab es sogar Verstecke.

    Großartige Theorie, nur steckte der Teufel im Detail. Diese Mathematik war echt heftig. Das war Anabolika-Trigonometrie, die tagsüber an Dess’ Kräften zehrte und sich nachts in ihre Träume schlich. Sie lag da, starrte die Notizen auf ihrer Tafel an und wünschte sich, sie besäße eine Art Rechenmaschine, mit der sie die Zahlen entwirren könnte. Dess runzelte wieder die Stirn. Noch nie hatte sie auch nur einen Taschenrechner benutzt. Der Schulcomputer, auf dem Mr Sanchez sie rumhacken ließ, würde auch nichts bringen. Was sie für diese Sache brauchte, war ein Computer im NASA-Format, ein Supercomputer, mit dem man die Erderwärmung vorhersagen und den Jüngsten Tag des Universums berechnen konnte.
    Ihr gegenüber stand Ada Lovelace auf ihrem kleinen Podest und glotzte Dess an, stoisch wie immer.
    „Stimmt, würde mir auch gefallen, wenn du mir helfen könntest“, erklärte sie der Puppe. Die echte Ada war aber schon lange tot (seit 153 Jahren, um genau zu sein), das ganze Talent war vergeudet worden, bevor die Welt erkannte, wie brillant sie gewesen war. „Das Gefühl kenne ich, Süße.“
    Dess rollte sich aus dem Bett.
    Die größte Schwierigkeit bestand darin, den ganzen Kram zu messen. Die blaue Zeit kam ohne Straßenschilder und Trigonometrietabellen an, und bei Google gab’s auch keine Details. Wenn sie Melissa nach Daten aushorchte, verbarg Dess stets ihre Gedanken, da sie ihr plötzliches Interesse an den Empfangsschwierigkeiten der Gedankenleserin nicht zeigen wollte. Aus bestimmten Gründen wollte Dess die Entdeckung ihres kleinen Geheimnisses aufschieben … Nun ja, sie wusste, warum. Rex und Melissa hatten schließlich auch ihre Geheimnisse, und Jessica und Jonathan waren so weit abgehoben im Pärchenhimmel, dass sie sich fragte, ob sie eine Rettungsmannschaft schicken sollte. Das hier war jedenfalls ihr Ding.
    Wegen ihrer Geheimniskrämerei war Dess’ Forschungsmaterial allerdings begrenzt. Ihr blieben nur Midnightertratsch und die Ölbohrkarten ihres Vaters. Und die musste sie sich mitten in der Nacht ausleihen.
    „Wo wir gerade dabei sind …“ Es war jetzt 1.25 Uhr, solide 16.500 Sekunden, bevor der Wecker des alten Griesgrams klingeln würde, falls er an diesem Wochenende arbeiten musste. Der perfekte Zeitpunkt, um ein paar Karten zu berechnen.
    Dess setzte ihre nackten Füße auf den Boden und spürte den Wind durch die alten Bodendielen. Sie prüfte ihr Gewicht auf dem Holz – in manchen Nächten knarrte es mehr als sonst. Ihre Zimmertür öffnete sich lautlos, dank der wöchentlichen Behandlung mit WD-40.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher