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Das Dunkle

Das Dunkle

Titel: Das Dunkle
Autoren: Scott Westerfeld
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„aufgegriffen und in die elterliche Obhut zurückgebracht worden“.) Vielleicht lag es auch daran, dass sie einen Freund hatte. (Obwohl das noch nicht offiziell war, wenn man es genau nahm.) Oder es lag an der geheimen Welt, die sich ihr hier in Bixby erst eröffnet und dann so heftig versucht hatte, sie umzubringen.
    Aber jetzt war alles in Ordnung, redete sie sich ein.
    Zum Beispiel steckten dreizehn Reißnägel unter jedem Fenster in ihrem Zimmer, und dreizehn Büroklammern lagerten auf dem Türrahmen. Sie trug einen dreizehnzackigen Stern um den Hals, und in einem Schuhkarton unter ihrem Bett lagen Tropidolaemus, Leuchtangriff und Demonstration (besser bekannt als Fahrradschloss, Autobahnfackel und schwere Taschenlampe). Ihre Namen hatten jeweils dreizehn Buchstaben, und alle drei Gegenstände bestanden aus glänzendem Edelstahl.
    Als sie auf ihren Wecker sah, überkam Jessica der gleiche Nervenkitzel wie immer um diese Uhrzeit. Aufregung, Ungeduld, endlich loszulegen, und plötzlich wurde ihre Zunge trocken, als ob sie eine Fahrprüfung in Chicagos Rushhour ablegen sollte.
    Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und setzte sich vorsichtig auf ihr sorgsam gemachtes Bett. Sie wollte nichts zerstören. Wenn sie auch nur ein Buch vom Regal herunternahm, konnte die ganze Nacht aus dem Gleichgewicht geraten. Die Ordnung im Raum fühlte sich trotz allem bedenklich an; ab hier konnte es nur abwärtsgehen.
    Jessica überkam dieses Gefühl in letzter Zeit häufiger.
    Während sie mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett saß, spürte sie etwas in ihrer vorderen Hosentasche. Sie angelte es hervor: der Vierteldollar, den sie beim Saubermachen in einem Schrank gefunden hatte. Die vorherigen Mieter mussten ihn übersehen haben. Jessica schnippte ihn in die Luft, das Metall blinkte, während er sich drehte.
    Beim dritten Versuch, als die Münze die höchste Stelle ihrer Flugbahn erreicht hatte, schien ein Zittern den Raum zu erfüllen …
    Sie konnte ihre Uhr noch so genau im Auge behalten, immer erschreckte sie der Wandel im ersten Moment – wie der Ruck, mit dem sich die Hochbahn in Chicago in Bewegung setzte. Aus der Welt lief die Farbe aus, das Licht wurde kalt und fahl und blau, und das leise Stöhnen des Oklahomawindes verstummte plötzlich. Vor ihr in der Luft schwebte der sanft glänzende Vierteldollar wie eine winzige und reglose fliegende Untertasse. Sie starrte ihn eine Weile intensiv an, aus sorgsamer Distanz, um den Bann nicht zu brechen.
    „Kopf“, verkündete sie schließlich, dann griff sie unter das Bett, um Leuchtangriff und Demonstration aus ihrem Schuhkarton zu befreien. Sie stopfte sie in die große Kängurutasche ihres Sweatshirts und kletterte aus dem Fenster.

    Draußen auf dem Rasen wartete Jessica. Sie brauchte sich nicht zu verstecken, obwohl sie noch zwei Wochen Hausarrest hatte (auch eine Nachwirkung der Verhaftung). Von den Häusern um sie herum ging ein blassblaues Leuchten aus.
    Niemand beobachtete sie, nichts rührte sich auf der Straße; sogar die fallenden Herbstblätter schwebten reglos in der Luft, hingen wie lange Kleiderschleppen von den Bäumen. Jetzt gehörte die Welt Jessica.
    Aber nicht ihr allein.
    Eine Gestalt wurde vor dem bewölkten Himmel größer.
    Von Dach zu Dach sprang sie elegant und leise in Schwüngen auf sie zu. Jede Nacht berührte er dieselben Häuser, wie eine Flipperkugel, die einer vertrauten Route von Bande zu Bande folgte. Dess behauptete, sie könne Zahlen in ihrem Kopf sehen und Jonathan die Winkel seines Fluges: Der eleganteste Weg würde wie in leuchtenden Linien vor ihm auftauchen.
    Jess spürte das beruhigende Gewicht der Taschenlampe durch ihr Baumwollsweatshirt. Sie hatten alle ihre Talente.
    Als sich Jonathan vor ihr sanft zu Boden schraubte, begann sich Jessicas nervöse Energie in etwas Angenehmeres zu verwandeln. Sie sah zu, wie sich Jonathans Körper drehte, wie er die Knie beugte und die Arme ausbreitete, um den Schwung seines geringen Mitternachtsgewichtes im Gras abzufangen. Sie spürte, wie die letzten Restchen Furcht in ihrem Hinterkopf in einer Schachtel mit der Aufschrift MIST verschwanden. Angst war in den ersten zwei Wochen hier in der geheimen Stunde sehr wichtig für sie gewesen – ihr Leben hatte davon abgehangen. Aber jetzt brauchte sie sie nicht mehr.
    „Hallo“, sagte sie.
    Jonathan ließ seinen Blick am Horizont entlangschweifen, auf der Suche nach Wesen mit Flügeln. Dann wandte er sich um und lächelte. „Hallo,
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