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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies
Autoren: Patrick Ness
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der Herausforderungen dieser Welt so schwach geworden, dass ihr innerhalb einer einzigen Generation zu einem Volk geworden seid, das sich sogar auf ein Gerücht hin ergibt!«
    Mit dem Mikrofon in der Hand läuft er auf dem Podium hin und her. Jedes angsterfüllte Augenpaar in der Menge folgt ihm, die Blicke sämtlicher Soldaten sind auf ihn gerichtet, alle sehen zu, wie er hin und her, hin und her läuft.
    Auch ich sehe ihm dabei zu.
    »Ihr lasst es geschehen, dass eine Armee in eure Stadt spaziert, und statt die Eindringlinge zu zwingen, die Stadt erst einmal zu erobern, gebt ihr sie aus freien Stücken auf.«
    Er geht noch immer auf und ab, er schreit noch immer.
    »Also habe ich sie genommen. Ich habe euch genommen. Ich habe eure Freiheit genommen. Ich habe eure Stadt genommen. Ich habe eure Zukunft genommen.«
    Er lacht, als könnte er sein eigenes Glück nicht fassen.
    »Ich habe einen Krieg erwartet«, spricht er weiter.
    Einige senken die Köpfe, weichen den Blicken der anderen aus.
    Ich frage mich, ob sie sich jetzt schämen.
    Ich hoffe es.
    »Aber anstelle eines Krieges habt ihr mir Verhandlungen angeboten. Verhandlungen, die mit diesen Worten begannen: ›Bitte, tut uns nichts‹ und die endeten mit ›Bitte, nehmt alles, was Ihr wollt‹.«
    Er bleibt mitten auf dem Podium stehen.
    »Ich habe einen Krieg erwartet!«, schreit er und ballt die Fäuste.
    Alle zucken zusammen.
    Wenn eine Menschenmenge zusammenzucken kann, dann diese.
    Mehr als tausend Männer zucken zusammen, weil ein Einziger seine Fäuste gegen sie ballt.
    Ich sehe nicht, was die Frauen machen.
    »Und weil ihr mir keinen Krieg geliefert habt«, sagt der Bürgermeister fast heiter, »müsst ihr nun die Folgen tragen.«
    Ich höre, wie sich die Türen der Kathedrale erneut öffnen. Mr Collins schiebt Bürgermeister Ledger vor sich her durch die Reihen der Soldaten. Die Hände des Gefangenen sind auf den Rücken gefesselt.
    Bürgermeister Prentiss steht mit verschränkten Armen da und sieht zu, wie die beiden näher kommen. Ein Raunen geht durch die Reihen der Männer, ein noch viel lauteres Murren kommt von den Frauen, und die Reiter schwenken ihre Gewehre, um die Leute einzuschüchtern. Bürgermeister Prentiss dreht sich nicht einmal um, es ist unter seiner Würde, das Gemurmel auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Er sieht nur schweigend zu, wie Mr Collins Bürgermeister Ledger die Podiumstreppen hinaufstößt.
    Auf der obersten Stufe bleibt Bürgermeister Ledger stehen und blickt über die versammelte Menge. Die Männer schauen gebannt zurück, einige von ihnen blinzeln, weil sein Summen so schrill ist, ein Summen, aus dem ich ein paar Worte heraushöre, Worte der Angst, Bilder der Angst, Bilder, die zeigen, wie Mr Collins ihm das Auge blau schlägt und seine Lippen aufspringen. Bilder, die zeigen, wie er selbst der kampflosen Übergabe der Stadt zustimmt und dann in den Turm gesperrt wird.
    »Knie nieder«, befiehlt Bürgermeister Prentiss, und obwohl er es leise sagt, obwohl er diese Worte nicht ins Mikrofon spricht, höre ich sie glockenhell in meinem Kopf. Und da auch die Leute auf dem Platz erschrocken den Atem anhalten, frage ich mich, ob sie es nicht ebenso gehört haben.
    Ehe er überhaupt begreift, was er da tut, kniet Bürgermeister Ledger schon auf dem Podium. Er scheint selbst überrascht, sich dort wiederzufinden.
    Die ganze Stadt sieht ihm dabei zu.
    Bürgermeister Prentiss wartet einen Augenblick.
    Dann tritt er zu ihm.
    Mit einem Messer in der Hand.
    Es ist ein riesiges, tödliches Ding, das in der Sonne blitzt und blinkt.
    Er hält es hoch über seinen Kopf.
    Er dreht sich langsam nach allen Seiten, damit auch jeder sehen kann, was gleich passieren wird.
    Damit auch jeder das Messer sehen kann.
    Mein Magen krampft sich zusammen und einen Augenblick lang denke ich …
    Aber es ist nicht meines.
    Nein, das ist es nicht.
    Und dann schreit jemand »Mörder!« quer über den Platz.
    Eine einzelne Stimme, die das Schweigen bricht.
    Sie kam aus der Reihe der Frauen.
    Mein Herz macht einen Satz.
    Natürlich kann sie es gar nicht gewesen sein …
    Aber wenigstens traut sich eine. Wenigstens eine Einzige traut sich.
    Bürgermeister Prentiss tritt gelassen ans Mikrofon. »Euer siegreicher Feind spricht zu euch«, sagt er beinahe höflich und tut so, als hätte die Ruferin es nur noch nicht ganz verstanden. »Als zwangsläufige Folge eurer Niederlage werden die Anführer hingerichtet.«
    Er dreht sich zu Bürgermeister Ledger, der noch
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