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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies
Autoren: Patrick Ness
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stehende Sonne lässt ihre Strahlen nur auf mich fallen, auf niemanden sonst.
    »Was habt Ihr mit ihr gemacht?«, frage ich, schreie ich.
    Ich blinzle, weil mir Blut in die Augen rinnt. Ich will es wegwischen, aber meine Hände sind auf dem Rücken gefesselt. Ich zerre an den Fesseln, denn jetzt kriege ich es mit der Angst zu tun, mein Atem geht schneller, und ich schreie wieder: »Wo ist sie?«
    Eine Faust schießt aus dem Nichts und trifft mich in die Magengrube.
    Ich krümme mich vor Schmerz, und da merke ich erst, dass ich an einen Holzstuhl gefesselt bin. Meine Beine sind an die Stuhlbeine gebunden, mein Hemd muss ich irgendwo auf dem staubigen Weg über den Berghang verloren haben, und als ich mich trotz meines leeren Magens übergeben muss, sehe ich, dass unter mir ein Teppich liegt, in dem New World und die beiden Monde als Muster eingewebt sind, ein Muster, das sich endlos wiederholt.
    Mir fällt wieder ein, dass wir auf dem Platz waren, auf dem Platz, zu dem ich geflohen war. Ich trug sie, sagte ihr, sie müsse am Leben bleiben, bis wir in Sicherheit sind, in Haven, und ich sie retten kann.
    Aber es gibt keine Sicherheit, nicht das kleinste bisschen, in Haven gibt es nur Prentiss und seine Männer, sie haben sie mir weggenommen, sie aus meinen Armen gerissen.
    »Fällt dir etwas auf? Er fragt gar nicht: ›Wo bin ich?‹«, sagt die Stimme des Bürgermeisters von irgendwoher im Raum. »Seine ersten Worte sind: ›Wo ist sie?‹, und sein Lärm sagt dasselbe. Bemerkenswert.«
    In meinem Kopf dröhnt es wie in meinem Magen, meine Erinnerung kehrt langsam zurück. Ich entsinne mich, dass ich gegen sie gekämpft habe, ich habe gegen sie gekämpft, als sie sie mir wegnahmen, bis ein Gewehrkolben mich an der Schläfe traf und alles um mich herum dunkel wurde.
    Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter, schlucke das Entsetzen und die Angst hinunter …
    Denn das ist das Ende, oder etwa nicht?
    Alles ist aus.
    Ich bin in der Gewalt des Bürgermeisters.
    Sie ist in der Gewalt des Bürgermeisters.
    »Wenn Ihr ihr etwas antut …«, sage ich drohend. Ich spüre den Faustschlag im Magen. Mr Collins steht vor mir, halb im Schatten. Mr Collins, der Getreide und Blumenkohl anbaut und auch die Pferde des Bürgermeisters versorgt, eben dieser Mr Collins steht jetzt vor mir, eine Pistole steckt in seinem Halfter, über der Schulter hängt ein Gewehr, und er hebt die Faust, um wieder auf mich einzuprügeln.
    »Ihr Zustand schien mir schon beklagenswert genug zu sein, Todd«, sagt der Bürgermeister und hält Mr Collins zurück. »Das arme Ding.«
    Obwohl ich gefesselt bin, balle ich die Fäuste. Mein Lärm kommt mir bröselig und ramponiert vor, aber wenn ich an Davy Prentiss denke, wie er sein Gewehr auf uns richtet, wenn ich daran denke, wie sie in meinen Armen zusammensackt, wie sie blutet und nach Luft ringt, dann braust er auf.
    Mein Lärm verfärbt sich dunkelrot, als ich mich daran erinnere, wie meine Faust in Davy Prentiss’ Gesicht landet, wie er vom Pferd stürzt, sein Fuß sich im Steigbügel verheddert und er weggeschleift wird wie ein Stück Abfall.
    »Nun«, sagt der Bürgermeister, »das beantwortet die Frage, wo mein Sohn abgeblieben ist.«
    Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der Gedanke amüsiert ihn beinahe.
    Aber ich kann es nur aus dem Klang seiner Stimme schließen, einer Stimme, die schneidender und gewandter klingt, als sie früher in Prentisstown jemals geklungen hat, denn das Nichts, das ich bei meiner Ankunft in Haven an ihm wahrnahm, ist immer noch da – ein riesiges Nichts, das den Raum erfüllt und sich mit einem anderen großen Nichts vermischt, das von Mr Collins stammt.
    Sie haben keinen Lärm. Beide Männer haben keinen Lärm.
    Der einzige Lärm hier ist mein Lärm, das Blöken eines verletzten Kalbes.
    Ich hebe den Kopf, suche den Bürgermeister, doch ich kann mich nur ein klein wenig zur Seite drehen, das ist alles, die Schmerzen sind zu groß, und ich weiß nur, ich sitze in einem gebündelten Strahl aus staubigem, farbigem Licht inmitten eines Raums, der so groß ist, dass ich seine Wände kaum erkennen kann.
    Aber dann sehe ich doch einen kleinen Tisch in der Dunkelheit, er steht so weit weg von mir, dass ich gerade noch erkennen kann, was darauf liegt.
    Ich sehe Metall blitzen, funkelnde, unheilvolle Dinge, von denen ich gar nicht wissen will, wozu sie dienen.
    »Für ihn bin ich immer noch der Bürgermeister«, höre ich seine Stimme, die schon wieder heiter
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