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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies
Autoren: Patrick Ness
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lässt sie gar nicht erst in deren Nähe.
    Mir kommt ihre Stille anders vor als die Stille der Männer. Sie ist wie ein Verlust, wie eine hohe Mauer aus Kummer, die sich gegen den Lärm der Welt stemmt. Ich muss mir wieder die Augen wischen, aber ich drücke mich noch näher an die Öffnung, versuche sie alle zu sehen, versuche jede Einzelne von ihnen zu sehen.
    Ich will herausfinden, ob sie auch da ist.
    Aber sie ist es nicht.
    Die Frauen sehen aus wie die Männer, sie tragen Hosen und Hemden von unterschiedlicher Art, aber die meisten von ihnen wirken sauber und zufrieden und wohlgenährt. Ihre Frisuren sind ganz verschieden, sie tragen die Haare zurückgekämmt oder hochgesteckt, manche lang, manche kurz, aber nicht annähernd so viele von ihnen sind blond, wie sie es in den Gedanken der Männer waren in der Stadt, aus der ich komme.
    Und mir fällt auf, dass viele mit verschränkten Armen dastehen, voller Abwehr und Zweifel.
    In ihren Gesichtern spiegelt sich mehr Zorn als in den Gesichtern der Männer.
    »Gab es auch jemanden, der anderer Meinung war?«, frage ich Bürgermeister Ledger, während ich unablässig die Frauen betrachte. »Jemanden, der sich nicht ergeben wollte?«
    »Wir leben hier in einer Demokratie, Todd«, antwortet er. »Weißt du, was eine Demokratie ist?«
    »Keine Ahnung«, antworte ich und schaue und suche und finde sie nicht.
    »Das bedeutet, dass man die Meinung der Minderheit zwar anhört«, sagt er, »aber dass die Mehrheit herrscht.«
    »Alle diese Menschen wollten sich ergeben?«, frage ich ungläubig.
    »Der Präsident hat dem gewählten Rat der Stadt ein Angebot gemacht«, sagt er und fährt sich über die aufgeplatzte Lippe. »Darin hat er zugesagt, dass die Stadt keinen Schaden nehmen wird, wenn wir seinem Angebot zustimmen.«
    »Und ihr habt ihm geglaubt?«
    Er funkelt mich an. »Entweder hast du es vergessen oder nie gewusst, aber auf diesem Planeten hat es schon einmal einen Krieg gegeben, etwa zu der Zeit, als du auf die Welt gekommen bist. Und wenn man irgendwie verhindern kann, dass sich so etwas wiederholt …«
    »Das heißt, ihr seid bereit, euch einem Mörder auszuliefern?«
    Er seufzt wieder. »Die Mehrheit des Rats, dem ich vorstand, war der Ansicht, dass man auf diese Weise viele Menschenleben retten kann.« Er lehnt den Kopf gegen die Steinmauer. »Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, Todd. Genau genommen ist nichts nur schwarz oder nur weiß.«
    »Aber was, wenn …«
    Tschack! Der Riegel der Tür gleitet zurück und Mr Collins kommt herein, die Pistole im Anschlag.
    Er starrt Bürgermeister Ledger an und sagt: »Steh auf!«
    Ich blicke von einem zum anderen. »Was geht hier vor?«
    Bürgermeister Ledger kommt aus seiner dunklen Ecke. »Es scheint, als bekäme ich jetzt meine Rechnung präsentiert«, sagt er und versucht gelassen zu klingen, aber ich höre, wie sein Lärmsummen vor Angst aufheult. »Haven war eine wunderschöne Stadt«, sagt er zu mir. »Und ich war damals ein besserer Mensch. Bitte, vergiss das nicht.«
    »Wovon sprichst du?«, frage ich.
    Mr Collins packt ihn grob am Arm und schubst ihn zur Tür hinaus.
    »Hey!«, schreie ich und laufe hinter den beiden her. »Wohin bringst du ihn?«
    Mr Collins hebt die Faust, um mich zu schlagen …
    Und ich ducke mich weg.
    (Halt die Klappe.)
    Er lacht und schließt die Tür hinter sich.
    Tschack!
    Ich bleibe allein im Turm zurück.
    Und als das Summen des Bürgermeisters sich auf der Treppe verliert, da höre ich es.
    Rechts, links, rechts, noch ziemlich weit weg.
    Ich gehe zur Maueröffnung.
    Das ist sie.
    Die Besatzungsarmee marschiert in Haven ein.
    Wie ein schwarzer Fluss strömt sie die Serpentinenstraße herab, schmutzig wie die Flutwelle eines Dammbruchs. Die Soldaten marschieren in Vierer- oder Fünferreihen, und als die Ersten zwischen den Bäumen am Fuß des Berges auftauchen, haben die Letzten gerade den Gipfel erreicht. Die Menge folgt ihnen mit Blicken, die Männer wenden sich vom Podium ab, die Frauen beobachten sie von den Seitenstraßen aus.
    Das Rechts-links-rechts-links wird lauter, hallt in den Straßen wider. Wie eine Uhr, die unablässig tickt.
    Alle warten. Ich warte auch.
    Und dann, dort hinten zwischen den Bäumen, an einer Straßenbiegung …
    Da kommt sie.
    Die Armee.
    Mr Hammar ist an ihrer Spitze.
    Mr Hammar, der in meiner alten Stadt im Tankstellenhaus wohnte, Mr Hammar, der widerliche, brutale Sachen dachte, die kein Junge jemals hören sollte, Mr Hammar, der die Menschen in
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